Kinder brauchen viel Schlaf. Der leidet, wenn der Nachwuchs gestresst ist. Foto: dpa

Schon Dritt- und Viertklässler klagen heute über Stresssymptome, die einst Managern, Vielfliegern und Karrieristen vorbehalten galten. Dass schon Sechsjährige keine Zeit zum Spielen mehr haben, ist die Schuld der Eltern.

Kopfschmerzen, Schlafprobleme, Übelkeit – rund drei von vier Kindern zwischen acht und zehn Jahren gaben in einer Befragung der Entwicklungspsychologen Arnold Lohaus und Johannes Klein-Heßling an, schon Stress erlebt zu haben. Jedes dritte Kind zwischen sechs und zwölf Jahren beschwert sich, dass wegen Hausaufgaben und Freizeitterminen das Spielen zu kurz kommt.

„Terminstress in bildungsnahen Familien“

Das Problem: Entspannungsphasen fehlen – in der Schule, aber auch zu Hause oder an den Orten, wo Kinder zahllose Kurse absolvieren. Vom „Terminstress in bildungsnahen Familien“ spricht der Kinderarzt Philip Fellner. „Fast noch schlimmer wirkt sich aber die Angst der Eltern aus, die ihre Kinder am Erproben der eigenen Kräfte hindern.“ Wenn ein Kind auf einen Baum klettert und die Eltern es auf halbem Weg zurückholen, vermasseln sie ihm die Gelegenheit eines Erfolgserlebnisses. „Voller Angst, dass etwas passieren könnte, packen Eltern ihre Kinder in Watte.Diese Art Stress haben viele Kinder, ausgelöst durch überfürsorgliche Belagerung der Eltern.“

Sicher wuchert der Stress auch im täglichen Terminkalender. Der ist deshalb so voll, weil die Eltern Angst haben, irgendetwas zu versäumen, was ihre Kinder auf die Überholspur des Lebens bringen könnte. Es sei beispielsweise fast unmöglich, für eine Asthmaschulung die nötigen viermal drei Stunden in einem Monat zu vereinbaren, weil die Kinder im Zeitplan zwischen Musikunterricht, Nachhilfe, Kieferorthopäde und Sportstunden keine Lücke haben, sagt Fellner.

Dass es das Verhalten der Eltern ist, das sie unter Stress setzt, könnten Kinder noch nicht verbalisieren. „Sie können den Sinn verschiedener Erwartungshaltungen nicht infrage stellen, und so sprechen sie mit Bauch- und Kopfweh von ihrer Not.“ Mütter, die ihn, wenn der Sohn gerade vier Jahre alt sei, besorgt fragten, ob er vorsorglich zum Logopäden gehen sollte, weil er ja irgendwann auf das Gymnasium gehen solle, seien keine Seltenheit. Ist Stress also ein Problem der Kinder des überfürsorglichen Bildungsbürgertums? Keineswegs.

Führungs- und Orientierungslosigkeit verursachen Stress

„Der Stress von Kindern aus bildungsfernen Familien äußert sich ähnlich, gründet aber in ganz anderen Gemengelagen aus Überforderung. Eine unfassbare Grenzenlosigkeit“, sagt Fellner. „Diese Kinder taumeln durch ihre frühen Jahre, die Eltern trauen sich nicht, ihnen liebevoll Grenzen zu setzen, etwas abzuverlangen und sich durchzusetzen. Diese Kinder haben Stress pur, weil sie führungs- und orientierungslos aufwachsen.“ Fragt man den Nachwuchs , wird die Schule als großer Stressfaktor genannt: Verkürzte Gymnasialzeit, hoher Leistungsdruck, Klassenarbeiten, fiese Lehrer, Ärger mit Mitschülern. Andererseits: Uroma und Uropa sind im Bombenhagel aufgewachsen, der Unterricht war von Druck und Disziplin geprägt. Waren Kinder früher widerstandsfähiger?

„Stress hat es immer schon im Kontext Schule gegeben“, sagt Arnold Lohaus, Entwicklungspsychologe an der Universität Bielefeld. Er hat zusammen mit einer Krankenkasse den Stresspräventionskurs „Bleib locker“ entwickelt. Das Angebot besteht bundesweit. Schulen können die Kurse buchen, Kinder lernen, wie man mit Stress umgeht. Stress sei nichts Neues, sagt Arnold Lohaus, „aber heute sind die Erwartungen der Eltern stärker auf das einzige Kind konzentriert, es sind nicht mehr sieben oder acht wie in der Generation der Großeltern“. Dazu komme ein riesiges Angebot: „Fernsehen rund um die Uhr, das Handy immer parat, der Computer ständig online. Das alles sind Reize, die fortwährend auf Kinder einprasseln“, so Lohaus.

Auch Gelassenheit ist sexy

Wie man das dosiert und zwischendurch auch mal die Drehzahl reduziert, lernen Kinder von ihren Eltern – oder auch nicht. Arnold Lohaus empfiehlt Müttern und Vätern, ihren Kindern vorzuleben, dass man eins nach dem anderen angeht. Allerdings: „Stress soll man nicht verteufeln. Wenn ich Stress habe, kann ich auch lernen, damit umzugehen“, so Lohaus.

Wer seinen Stress zelebriert, weil er ihm sagt, wie wichtig und gefragt und begehrt er ist, übermittelt Kindern eine verwirrende Botschaft. Lieber mal die Gelassenheit als sexy feiern: „Ich muss mich jetzt ein bisschen ausruhen“, wäre ein fruchtbarer Hinweis in eigener Sache. Oder die Frage: „Was würdest du gerne machen, wenn die Mathe-Arbeit geschafft ist?“

Man könnte ja auch mal Termine streichen und Kinder einfach spielen lassen, wie sie wollen, damit sie von sich aus entdecken können, wozu sie fähig sind.