Katrin Schneider (rechts) im Gespräch mit Kathrin Wesely Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Vielleicht braucht es eher kindgerechtere Eltern als eine kindgerechte Stadt, meint Katrin Schneider. Als Vorstand des Vereins Abenteuerspielplatz West erlebt sie dauerbeaufsichtigte Kinder, die sich nichts trauen, weil man ihnen nichts zutraut.

S-Stuttgart - Eine Großstadt ist kein Ponyhof und keineswegs kindgerecht. Muss sie auch nicht sein, soll sie gar nicht sein, findet Katrin Schneider. Von einem Vorstand des Abenteuerspielplatzes West, der ideologisch in der 68er-Bewegung wurzelt und Stadtkindern seit fast 40 Jahren ganz antiautoritär Auslauf gewährt, hätte man vielleicht eine andere Meinung erwartet. Aber Schneider stimmt kein großes Lamento über die Gefährlichkeit des Straßenverkehrs an, und sie würde die Innenstadt auch nicht in eine Hüpfburg ohne scharfe Kanten verwandeln, wenn sie dürfte: „Wenn man den Kindern ständig Situationen vorenthält und sie vor allem zu schützen versucht, wie sollen sie dann je lernen, einen Weg allein zu gehen? Wie sollen sie lernen, Situationen zu meistern? Und wie lernen sie dann den Umgang mit anderen?“

Ungebremster Verkehr in den 1970er Jahren

Schneider plädiert dafür, die Kinder ihre persönlichen Erfahrungen mit der städtischen Wirklichkeit machen zu lassen. So hat sie sich selbst dereinst die Welt angeeignet – vor etwa 40 Jahren in einer anderen Großstadt. Aufgewachsen ist die Mutter zweier Kinder in Nürnberg. Der Schulhof vis-à-vis und die Baustellen im nahen Neubaugebiet waren ihr Abenteuerspielplatz. Der Autoverkehr war in den 70er Jahren zwar noch nicht so dicht, dafür aber ungebremst: Spielstraßen, Fußgänger- und Tempo-30-Zonen sind erst später erfunden worden. „Wir mussten schon aufpassen“, erinnert sich Schneider. „Aber ich war gut gedrillt. Mein Opa war Verkehrspolizist. Seine Warnungen wirken bis heute: Ich gehe selbst nachts nicht bei Rot über die Fußgängerampel.“ Sollte man es wie früher machen, seine Kinder einfach springen lassen? „Nein. Ich sage zu meinen Kindern natürlich auch nicht: ,Geh mal raus auf die Straße, du findest da schon wen zum Spielen.‘ Früher war das normal. Wir sind nach der Schule rausgegangen und bei Dunkelheit heimgekommen. Das geht heute nicht mehr“, sagt die 47-Jährige.

Wer heute sein Kind bis zum Abend auf der Straße lässt, muss fürchten, dass Nachbarn das Jugendamt informieren. Man trifft auch auf keine unbeaufsichtigten Kinderhorden, die auf eigene Faust die Stadt erkunden. Die Welt der Kinder ist größer und kleiner zugleich geworden: Sie kennen zwar ferne Orte aus dem Urlaub und dem Internet, doch ihr ganz persönlicher Aktionsradius bleibt stets überschaubar für Erwachsene. Katrin Schneider sieht diese Entwicklung kritisch und beobachtet eine Permanentfürsorge unter Dauerbeaufsichtigung, die letztlich zu Unselbstständigkeit führe. „Kinder und Eltern können nicht voneinander loslassen. Die Kinder rufen bei jedem Problemchen zu Hause an, anstatt selbst mal eine Lösung zu suchen.“ Hinzu käme oft ein voller Terminkalender mit zusätzlichem Sport-, Musik- und Sprachunterricht. „Man muss gar nicht so wahnsinnig viel in der Stadt ändern, sondern mehr in den Köpfen der Eltern, damit sie loslassen und ihren Kindern etwas zutrauen.“

Stadt als Lern- und Erfahrungsort

Aus Schneiders Sicht ist die Stadt ein guter Lern- und Erfahrungsort. „Kinder machen auch gute Erfahrungen mit Menschen, die freundlich und hilfsbereit sind. Sie lernen, Menschen einzuschätzen. Ich habe keine Angst, wenn meine Kinder allein in der Stadt unterwegs sind.“ Regelrecht begeistert ist sie von der Aktion „Gute Fee“, durch Aufkleber gekennzeichnete Läden und Einrichtungen, die Kindern zeigen: Wir helfen, wenn du ein Pflaster brauchst, mal telefonieren oder zur Toilette musst, du dich verlaufen hast oder sonst schnell mal Hilfe brauchst.

Kinder können und sollen sich an die Stadt anpassen – einerseits. Andererseits ist die Stadt nicht bloß der Lebensraum von Erwachsenen, sondern auch von Kindern, und die stellen andere Ansprüche. Diese sieht Katrin Schneider in mancher Hinsicht nur unzureichend erfüllt. „Insbesondere für größere Kinder gibt es wenig. Zwischen sechs und zwölf Jahren wollen die das klassische Babyzeug vom Kinderspielplatz nicht mehr. Spielplätze wie der in der Eierstraße im Süden mit Seilbahn, Kletterbrücke und Trampolin gibt es sonst fast nicht.“ Oft würde es einfach reichen, zwischen den Bäumen im Park ein paar Slacklines zum Balancieren zu spannen oder bestehende Spielplätze um anspruchsvolle Geräte zu erweitern – beispielsweise um eine Kletterwand oder eine Halfpipe. „Die Sportgeräte für Erwachsene machen auch meinem Sohn Spaß, und der ist elf.“ Seit Jahren werde beklagt, dass sich die Kinder heute zu wenig bewegten: „Wenn man ihnen keine passenden Angebote macht, dann daddeln sie eben bloß am Handy.“

Plätze interimsweise nutzen

Es brauche mehr Zwischenreiche wie den Abenteuerspielplatz West, wo die Kinder allein hinkommen, aber nicht allein gelassen werden, wenn sie es nicht wünschen. Und es brauche Orte, an denen Kinder mal unter sich sein könnten. Dafür könnten Plätze auch interimsweise genutzt werden, meint Schneider. Als Beispiel nennt sie den Wasen, wo die Stadt erstmals den „Wasen-Sport-Sommer“ eingerichtet hat. Von Juni bis 4. September werden auf der Festwiese sieben Trendsportarten angeboten.

Doch ein für Schneider „ganz zentraler Punkt“ bei der Frage nach Lebensräumen in der Stadt gilt für Kinder und Erwachsene gleichermaßen: „Um mehr Kinder und Familien in der Stadt zu haben, muss dringend mehr bezahlbarer Wohnraum geschaffen werden. Eine Gentrifizierung der Stadtviertel führt da nicht hin, es gibt dann eben an jeder Ecke einen Friseur, eine vegane Szene-Bar oder ein Architekturbüro – aber Wohnraum für Familien gibt es dann leider nicht mehr.“