Auch im Friseurhandwerk wird oft noch unter dem gesetzlichen Mindestlohn verdient. Foto: dpa

Nach fast vier Jahren Laufzeit offenbart eine Bilanz des gesetzlichen Mindestlohns Licht und Schatten des einst erbittert bekämpften Instruments. Der Chef der Mindestlohn-Kommission warnt die Unternehmen Betriebe davor, die Untergrenze zu umgehen.

Stuttgart - Jan Zilius ist – auch aufgrund seiner öffentlichen Zurückhaltung – weithin unbekannt. Doch leitet der Jurist seit 2015 die Mindestlohn-Kommission, die alle zwei Jahre die gesetzliche Lohnuntergrenze überprüft und der Bundesregierung entsprechende Anhebungen empfiehlt. Der frühere RWE-Arbeitsdirektor ist ein von Arbeitgebern und Gewerkschaft anerkannter Vorsitzender. Diese Überparteilichkeit macht seine Analyse des einst hochumstrittenen Mindestlohns, für die er viele Studien berücksichtigt hat, besonders wertvoll. Sein Fazit nach fast vier Jahren Laufzeit offenbart Licht und Schatten.

Keine Jobs vernichtet Nachdem damals noch das Schreckgespenst der Jobvernichtung regierte, „lassen sich substanzielle negative Beschäftigungseffekte bisher nicht feststellen“, so Zilius im „Wirtschaftsdienst“ des Leibniz-Informationszentrums. Vielmehr habe die Gesamtbeschäftigung von April 2014 bis April 2017 im Jahresvergleich jeweils zwischen 1,4 und 1,9 Prozent zugenommen.

Millionen liegen noch unter Mindestlohn Nach wie vor erhält eine große Zahl von Beschäftigten Stundenlöhne unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns. Je nach Quelle wird diese Zahl für 2016 zwischen 750 000 (Statistisches Bundesamt) und 1,8 Millionen (Forschungsinstitut DIW) geschätzt.

Schub für niedrige Stundenlöhne Für die Gewerkschaften besonders erfreulich ist, dass die Einführung des Mindestlohns zu deutlichen Steigerungen des Stundenlohns am unteren Rand geführt – vor allem bei Beschäftigtengruppen, die zuvor überdurchschnittlich oft unter 8,50 Euro brutto je Stunde verdient haben. Dies sind mit Masse ostdeutsche Arbeitnehmer, geringfügig Beschäftigte, Personen ohne Ausbildung, Beschäftigte in kleineren Unternehmen sowie ganz allgemein Frauen.

Arbeitgeber konterkarieren Einführung Bei den Bruttomonatslöhnen zeigen sich kaum nennenswerte Zuwächse. Der Grund: Von 2015 an kam es teilweise zu Reduzierungen der vertraglich vereinbarten und bezahlten individuellen Arbeitszeit, was die Effekte bei den Stundenlöhnen eingeebnet hat. Laut dem Statistischen Bundesamt stieg der Stundenlohn bei Beschäftigungsverhältnissen im Mindestlohnbereich von 2014 bis 2016 um rund 14 Prozent, der Monatslohn lediglich um vier Prozent. Die größten Auswirkungen hatte der Mindestlohn somit auf die Arbeitszeit. Firmenbefragungen und qualitative Studien zeigen, dass die Betriebe vor allem mit einer Anpassung der Arbeitszeit und mit Arbeitsverdichtung auf den Mindestlohn reagieren. Bei Beschäftigten, die bis Ende 2014 weniger als 8,50 Euro je Stunde verdienten, ist die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit unmittelbar nach der Einführung zwar deutlich zurückgegangen. Bei der tatsächlich geleisteten Arbeitszeit hingegen gab es kaum Veränderungen. „Dieser Befund sollte weiter analysiert werden“, mahnt Zilius, weil „Unregelmäßigkeiten bei der Erfassung der Arbeitszeit“ für die Umgehung des Mindestlohns als besonders relevant angesehen werden.

Armut kaum begrenzt Die Zahl der 1,2 Millionen „Aufstocker“, die trotz Erwerbstätigkeit Arbeitslosengeld II erhalten, ist lediglich geringfügig mehr als im Durchschnitt der Vorjahre zurückgegangen. Auch sei der Mindestlohn „nur begrenzt geeignet, die Armutsrisiken zu reduzieren“, meint Zilius. Dies hat drei Gründe: Erstens sind besonders armutsgefährdete Personengruppen oft nicht erwerbstätig und können vom Mindestlohn nicht profitieren. Zweitens lebt nur ein Teil der Mindestlohnbezieher in armutsgefährdeten Haushalten. Und drittens resultiert eine Armutsgefährdung von Erwerbstätigen wie bei der Grundsicherung nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II häufig nicht aus einem geringen Stundenverdienst, sondern aus einer geringen Wochenarbeitszeit.

Im Juni 2020 legt die Mindestlohn-Kommission ihren dritten Bericht vor. Aktuell beträgt die Untergrenze 8,84 Euro pro Stunde. Zum 1. Januar 2019 soll sie auf 9,19 Euro und zum 1. Januar 2020 auf 9,35 Euro steigen.