Gerhard Raff war vor 45 Jahren mit seiner Super-8-Kamera in Degerloch unterwegs. Die Aufnahmen zeigte er am Freitag. Foto: Rüdiger Ott

Die Geschichtswerkstatt, eine Gruppe engagierter Ortshistoriker, sammelt alte Filme aus Degerloch, um ein Archiv zu erstellen. Zu Besuch bei der Sichtung der Streifen.

Stuttgart-Degerloch - Stumm guckt der alte Mann mit der Mütze in die Kamera. Sein Gesicht ist wettergegerbt, er lehnt mit dem Rücken an einer Steinmauer. Seine Kleider sind oft getragen und dennoch gepflegt. Er wippt hin und her, lächelt. „Das ist der alte Mesner Kuhn, ein Degerlocher Original“, sagt Gerhard Raff, auf den die Beschreibung ebenso gut passen könnte. Vor 45 Jahren war Raff, seines Zeichens Historiker und Degerlocher Urgestein, mit seiner Super-8-Kamera im Ort unterwegs, um einen Film zu drehen. Die Bilder der Menschen, die er damals traf, flackern am vergangenen Freitag über die Leinwand im Gemeindesaal der Haigstkirche. Und die, die an diesem Tag neben Raff sitzen, können kaum glauben, was sie sehen.

Es sind Aufnahmen wie diese, die zu suchen sich die Degerlocher Geschichtswerkstatt zum Ziel gesetzt hat. Die Gruppe engagierter Ortshistoriker will aus den Filmschätzen, die in heimischen Wohnzimmern schlummern, ein Archiv erstellen. Als ersten Schritt haben sie die Degerlocher dazu aufgerufen, alte Filme vorbeizubringen, um sie zu sichten. Die erhaltenswerten Schnipsel sollen anschließend digitalisiert und auf CD gebrannt werden.

Ein vertrautes Gesicht auf der Leinwand

Anna Leippe arbeitet für das Stuttgarter Haus des Dokumentarfilms, wo sie für die Konservierung alter Filme zuständig ist. Es gehört zu ihrer Aufgabe, im ganzen Land unterwegs zu sein und historische Bänder zu sichern – so wie in Degerloch. Dafür besitzt sie das nötige Gerät. Die Abspielgeräte für die verschiedenen Formate hat sie mitgebracht. „Wir kriegen die schönsten Geschichten zu sehen, und das ist immer etwas Besonderes“, sagt sie.

Zu Beginn sind an jenem Freitag nur wenige Menschen da. Nur langsam tröpfeln die Besucher in den Gemeindesaal, manche aus Interesse, manche, weil sie selbst Filmrollen zeigen wollen. Aber zuerst müssen Gerhard Raffs Bänder gesichtet werden. Sein Namensvetter Albert Raff entdeckt ein vertrautes Gesicht auf der Leinwand. „Gustl Gohl, gefürchtet bei den Kindern“, sagt er. Die rüstige Dame auf der Leinwand hat die Kinderkirche geleitet, zapft für die Kamera aber Wein aus einem Fass in ihrem Keller.

„Das gibt es alles nicht mehr“

Weitere Protagonisten sind: Robert Harm, Spitzname Franzos, weil er aus dem Ersten Weltkrieg mit einer roten Hose zurückkam; freilaufende Hühner im Ortskern; die hohe Eiche, die damals noch tatsächlich auf einer Wiese bei Hoffeld stand; Helene Pfleiderer, die in einem Wengert am Scharenberg Trauben liest; und viele andere, alteingesessene Degerlocher. „Das ist Paul Lutscher, ganz liebes Bürschle“, sagt Gerhard Raff – noch ein Gesicht, in das der Krieg und die harte Arbeit tiefe Furchen gegraben hat. Auch alte Häuser sind zu sehen. „Das gibt es alles nicht mehr“, sagt Helmut Doka, einer der Projekt-Initiatoren.

„Es ist genügend Material für einen Degerlocher Filmabend zusammengekommen“, sagt Anna Leippe. Die Zahnradbahn wurde oft gefilmt, auch das Begräbnis von Gustav Epple ist auf Zelluloid gebannt. Im Haus des Dokumentarfilms gibt es noch weiteres Material. Wann ein zusammenhängender Film gezeigt werden kann, ist unklar. Einige Monate wird es sicher dauern. Eines wird gleich vor Ort entschieden. „Wir vertonen das in Schwäbisch“, sagt Rolf Armbruster von der Geschichtswerkstatt.