Irene Ferchl. Foto: Schieferecke

Ja, so ist es: Das Haus ist alt, verwinkelt und winzig. Im Winter frieren die Literaten hier drin. Im Sommer schwitzen sie. Und von draußen tost der Lärm des Verkehrs um den Charlottenplatz hinein. So kann man es sehen.

S-Mitte - Ja, so ist es: Das Haus ist alt, verwinkelt und winzig. Im Winter frieren die Literaten hier drin. Im Sommer schwitzen sie. Und von draußen tost der Lärm des Verkehrs um den Charlottenplatz hinein. So kann man es sehen.

Oder so: „Ich habe damals keine einzige Zeile geschrieben. Mit einem Kulturredakteur bin ich durch das Rotlichtviertel gezogen. Die Aufenthalte im Brunnenwirt haben mich zu meinem Gedicht Mitternachtsnutten inspiriert. Die Erfahrungen prägten später wesentlich einen der drei Teile meines Weiberromans.“

So sieht es der inzwischen renommierte Schriftsteller Matthias Politycki. Er wurde an der Kanalstraße 4 gleichsam entdeckt.

Unterm Dach wohnen die Stipendiaten

„Das Haus ist stimmig“, sagt Irene Ferchl – für seinen Zweck. Sie klaubt ein halbes Dutzend Briefumschläge vom Boden auf. Es sind Lebensläufe und Textproben, Bewerbungen von Schriftstellern, die im Haus leben wollen, dem Schriftstellerhaus, Bewerbungen für ein Stipendium. Um die 100 Anfragen kommen jedes Jahr. Drei davon wählt eine Jury aus. Polityckis war 1991 eine von ihnen. Ferchl ist Vorsitzende des Vereins, der das Haus betreibt.

Oben unterm Dach wohnen die Stipendiaten. In der Mitte vermietet der Verein Zimmer an durchreisende Autoren, manchmal an andere Kulturschaffende. Durch die Fensterscheiben im Erdgeschoss glotzen Fußgänger gelegentlich irritiert. Dort hocken regelmäßig diejenigen unter schwarz-weiß getünchten Deckenbalken, die in Stuttgart Literatur schaffen. Sie diskutieren über gelungene oder misslungene Schriften, gern bei Wein oder beim Bier, für das 1,50 Euro ins Kässchen auf dem Tisch zu werfen sind. Die Mischung aus Stipendiatenhaus, Künstlerherberge und Literaturzirkel ist bis heute bundesweit einmalig.

Das Haus passt für emporstrebende Schriftsteller, aber unten um den Tisch passen nur ein Dutzend Menschen. Für öffentliche Veranstaltungen muss der Verein ausweichen, oft in die Stadtbibliothek, mal in Privatwohnungen oder -Gärten. Wie jüngst für die Sommerlesereihe.

„Das Interesse hat nicht nachgelassen“

Das Haus selbst steht seit dem 17. Jahrhundert an der Kanalstraße. Vor fast genau 30 Jahren zog der Schuster Max aus und der Literaturbetrieb ein – mit Wohlwollen des Ministerpräsidenten Lothar Späth und des Oberbürgermeisters Manfred Rommel samt Geld von Stadt und Land. Der SDR-Kulturredakteur und Poet Johannes Poethen hatte die beiden Herren für die Idee begeistert. Zwanzig Jahre später stand das Haus vor dem Aus. Die Christdemokraten im Gemeinderat wollten sich den Zuschuss von damals 23 600 Euro sparen. Der Betrieb wäre unmöglich geworden, aber aus der Streichung wurde nur eine Kürzung.

In Zeiten der Kurzmitteilungen via Twitter oder SMS, die von wenig mehr zeugen als von Rechtschreibschwäche, mögen die literarischen Debattierrunden aus der Zeit gefallen wirken, aber „das Interesse hat nicht nachgelassen“, sagt Ferchl. Warum, erklärt sie etwa so: Bei Lesungen hören Menschen Literatur. In anderen literarischen Zirkeln diskutieren sie über Literatur. Im Schriftstellerhaus „kann man direkt im kleinen Kreis mit den Autoren reden“.