In diesem Brunnen an der Gerlinger Hauptstraße hat Gottlieb Grob Milchkannen über Nacht gekühlt. Das Foto entstand Jahrzehnte nach dieser Zeit, etwa 1952. Foto: Stadtarchiv

Das 100-Jahr-Jubiläum der kommunalen Milchsammelstelle gibt einen Einblick in die Wirtschaftsweise von einst. Milch aus dem Pappkarton? Damals unvorstellbar.

Gerlingen - Es war die Zeit, als die heutige 20 000-Einwohner-Stadt Gerlingen noch ein Dorf von gut 2000 Menschen war, und als es Dutzende von Bauern gab. Es war die Zeit, als die Milch in der Blechkanne in die Häuser kam, als die viereckige Wegwerfpackung noch nicht erfunden war. Es war die Zeit, als noch Krieg war und die Gerlinger Bauern dazu beitrugen, die benachbarten Hauptstädter in Stuttgart mit Milch zu versorgen. Um dies organisatorisch in ordentliche Bahnen zu lenken, gründete die Gemeinde am 1. August 1918 eine Milchsammelstelle. 100 Jahre später gibt es wie so manch anderes auch diese Sammelstelle nicht mehr.

Die Geschichte beginnt noch etwas früher. Man schrieb das Jahr 1904. Da heiratete der 1880 geborene Gottlieb Grob. Er hatte aus seiner Zeit als Ziegeleiarbeiter schon so viel Geld beisammen, dass er nicht nur eine Familie, sondern auch ein Milch- und Fuhrgeschäft gründen konnte. Die Milch sammelte er abends bei den Bauern ein, 50 oder 60 mögen es gewesen sein, meist Nebenerwerbsbetriebe. Die Milch wurde in 20-Liter-Kannen transportiert, Grob stellte sie über Nacht zum Kühlen in den Trog eines großen Brunnens vor seinem Haus in der Hauptstraße 55. Den gibt es heute nicht mehr. Doch der Besucher Gerlingens, der nicht die Details der Ortsgeschichte kennt, könnte einem Irrtum aufsitzen. Denn es gibt auch heute einen Brunnen in der Hauptstraße – aber der wurde erst in den 1950-er Jahren vom berühmten Bildhauer Fritz von Graevenitzgeschaffen. Grob bediente sich einst eines Brunnens, der im Alltag vielfach genutzt wurde. Bottiche auf einem Bild künden davon.

Gemeinderat beschäftigt sich mit der Milchwirtschaft

Die Milchwirtschaft beschäftigte damals auch den Gemeinderat immer wieder. Im April 1918 war im Rathaus von einem großen Ernährungsproblem die Rede. In Gerlingen kamen pro Tag rund 300 Liter Milch zusammen. Davon mussten täglich exakt 201 Liter nach Stuttgart abgeliefert werden. Weil das über die Bauern selbst nicht gut lief, gab der Rat die Regie in kommunale Hand. Nicht in städtische: Gerlingen wurde erst 1958 zur Stadt erhoben. Aber das ist eine andere Geschichte.

Im letzten Jahr des Ersten Weltkriegs, so sagt der Landwirt Martin Maisch heute, mögen in Gerlingen rund 60 Bauern Kühe gehalten haben. „Normal waren zwei, drei oder vier Kühe, größere Bauern hatten zehn oder zwölf.“ Heute sind die Verhältnisse anders: Es gibt noch zwei hauptberufliche Bauern, die Milch erzeugen – mit zusammen rund 200 Kühen.

Zurück ins Jahr 1918. Der Bauer Samuel Wagner wurde der Geschäftsführer der Milchsammelstelle, sein Schwager Gottlieb Grob behielt den Vertrieb: Er fuhr jeden Morgen mit dem Pferdegespann 20 bis 25 große Milchkannen über Botnang nach Stuttgart, dazu eine Anzahl kleinerer Kannen für bestimmte Haushalte. Das ging aber nur etwa ein Jahr lang so. Im Sommer 1919 übernahmen zwei Frauen, Christiane Schweizer und Sofie Roth, die Geschäfte, Roth hatte weiter den Fahrdienst inne. Bereits 1920 blieben die Pferde im Stall, ein motorbetriebener Lastwagen trat an seine Stelle. Im September 1921 schließlich wurde die Milchsammelstelle aufgelöst: Die Milch blieb nun im Dorf, der Handel „nach auswärts“ war sogar verboten. Das steht in Protokollen des Gemeinderats, die im Gerlinger Stadtarchiv verwahrt werden.

Genossenschaft wird gegründet

1927 löste eine Milchverwertungsgenossenschaft den kommunalen Milchhandel ab. Es gab 74 Gründungsmitglieder, jeden Tag kamen etwa 2000 Liter Milch im Ort zusammen. Zum Jahresende wurden schon 158 Mitglieder gezählt, 173 waren es im Jahr 1935. Ein Jahr später erhielten die Bauern 18 Pfennig für den Liter Milch. In den Jahrzehnten danach stieg das Milchaufkommen nicht mehr so rasch an: In einer Festschrift des Milchhäuslesvereins, wie die Genossenschaft wegen ihrer 1937/38 bezogenen Räume in der Urbanstraße genannt wurde, ist von 2588 Litern im Jahr 1967 und 2740 Litern im Jahr 1997 die Rede. Heute, so schätzt Martin Maisch, „sind es rund 4000 Liter, eher weniger“.

Im Milchhäusle wurden jeden Tag 1000 Flaschen abgefüllt. Milch gab es, vor allem in den 1950er Jahren, in zehn lizenzierten Geschäften im Ort zu kaufen. Dann verschwand die Milchflasche, bis sie 1987 von Südmilch in den Läden wieder auftauchte – als Qualitäts- und Markenzeichen. Die großen Blechkannen zum Sammeln waren von den Höfen der Gerlinger Bauern aber schon 1968 verschwunden, jetzt holten Tankwagen die Milch direkt bei den Höfen ab. Wegen der hohen Kosten der Umstellung beendeten dabei 13 Landwirte ihre Milchviehhaltung. Im Herbst desselben Jahres wurde der Milchladen als Verkaufsstelle aufgegeben. Auch im Rathaus gibt es keine Milch mehr – außer im Kaffee.