So sah der Blick auf den Marktplatz im Jahr 1833 aus. Foto: privat

Im Frühjahr soll das historische Rathaus fertig saniert sein und die Verwaltung wieder in die geschichtsträchtigen Räume einziehen können. Während der Sanierung wird auch Bauforschung betrieben – mit erstaunlichen Erkenntnissen.

Bad Cannstatt - Unter den Augen deutscher Könige und Kaiser sind an dieser Stelle die Eltern von Albert Einstein getraut, die letzte Sitzung des Cannstatter Gemeinderats vor der Verschmelzung mit Stuttgart abgehalten, Gerichtsverhandlungen geführt und rauschende Feste gefeiert worden. Auch wenn die gekrönten Häupter nur von Gemälden und als Büsten lächeln – der Saal im historischen Rathaus von Bad Cannstatt hatte wie die beheizbare Bohlenstube von jeher repräsentative Funktion.

„Ursprünglich erstreckte sich der Saal über ein ganzes Stockwerk“, sagt der Cannstatter Historiker Olaf Schulze. Damals sei das mehr als 500 Jahre alte Gebäude zwar noch nicht Rathaus gewesen, mit Sicherheit aber ein öffentliches Gebäude, das unter anderem als Speicher, als Bühne für fahrende Theatergruppen und als Kaufhaus und Zollamt genutzt wurde. Das Rathaus von Cannstatt befand sich bis Mitte des 19. Jahrhunderts an der Stelle, wo heute der Erbsenbrunnen steht – darauf lassen laut Schulze einerseits verschiedene historische Quellen schließen, andererseits auch die Verbreiterung der Marktstraße an dieser Stelle.

Veränderungen der Verwaltung bedingen Umbauten

Mit dem Umzug der Stadtverwaltung ins heutige alte Rathaus begann sich auch die Verwaltung zu verändern – was sich auf das Gebäude auswirkte: „Umso differenzierter die Verwaltung wurde, umso mehr Büroräume wurden gebraucht“, erklärt Schulze. Um etwa Platz für das Standesamt zu haben, wurde der Saal verkleinert und geteilt und nahm fortan nur noch etwa zwei Drittel der Fläche des Stockwerks ein. Weitere Veränderungen der Verwaltung brachten weitere Umbauten mit sich – bis es schließlich im ganzen Rathaus nur noch einzelne Büros gab.

Während der derzeitigen Sanierung des Rathauses wurde der Saal wiederentdeckt – und wird doch nicht wiederhergestellt, was Schulze bedauert: „Ich denke, man hätte eine Lösung finden können, den ehemaligen Saal als größeres Büro wiederherzustellen, um ihn zu besonderen Anlässen als Veranstaltungssaal zu nutzen.“ Dies wäre seiner Ansicht nach nicht nur eine Hommage an die Geschichte, sondern hätte auch praktische Vorteile.

Schulze beschäftigt sich nicht erst seit dem Beginn der Sanierung mit der Geschichte des Cannstatter Rathauses, sondern hat auch zuvor bereits historische Quellen, Zeichnungen und Kupferstiche ausgewertet. Mit den Architekten vom Büro Strebewerk, die während der Sanierung für die Bauforschung verantwortlich zeichneten, stand er in den vergangenen Monaten in Kontakt, vielfach haben sich archivarisch überliefertes Wissen und Wissenschaft ergänzt und bestätigt.

Vom 500 Jahre alten Ursprungsbau ist viel erhalten

So wurde etwa die Inschrift am Portal wissenschaftlich bewiesen: Das historische Bezirksrathaus Bad Cannstatts wurde vor rund 520 Jahren errichtet. „Über die Jahresringe des Holzes konnten wir mithilfe von Vergleichsproben das Alter des Fachwerks auf die Jahre 1492 und 1493 bestimmen“, sagte der Architekt Tilmann Riegler vom Büro Strebewerk kürzlich dem Cannstatter Bezirksbeirat. Zusammen mit seinem Kollegen Timm Radt hat er seit Frühjahr 2010 die Sanierung des historischen Rathauses wissenschaftlich begleitet und unter anderem untersucht und dokumentiert, wie alt welche Teile des Gebäudes tatsächlich sind und welche Materialien wann und wo verwendet wurden.

So manche Renovierung ließ sich dabei ganz einfach und ohne wissenschaftliche Untersuchungen datieren: Als Füllfläche unter dem Verputz wurden an vielen Stellen Zeitungen verwendet, die nach zum Teil mehr als 100 Jahren ohne Tageslicht zwar etwas mitgenommen aussehen, aber ihr Erscheinungsdatum alle noch zweifelsfrei erkennen lassen.

„Vom Ursprungsbau ist außerordentlich viel erhalten“, sagt Radt. So seien etwa in fast jedem Stockwerk Teile der Fassadenkonstruktion aus dem 15. Jahrhundert vorhanden. Damit fügt sich das historische Haus ein in eine Reihe spätgotischer Gebäude in der Cannstatter Altstadt, die über den Stadtbezirk hinaus von Bedeutung sind, erklärt der Historiker Olaf Schulze: „Es ist eines der bedeutendsten nichtkirchlichen Gebäude in Stuttgart, wo so viele Häuser während des Kriegs zerstört wurden.“ Über eine Glocke verfügt das historische Rathaus übrigens trotzdem: Die aus dem Jahr 1250 stammende Glocke im Dachreiter des Hauses hatte ursprünglich die Funktion, die Menschen zusammenzurufen, wenn der Gemeinderat wichtige Entscheidungen, Ereignisse oder Ergebnisse einer Gerichtsverhandlung zu verkünden hatte.