Thomas Weber hat sich intensiv mit der Lebensgeschichte Adolf Hitlers befasst. Foto: Martin Bernklau

Der Dozent Thomas Weber spricht in der Reihe „Geschichte im Rathaus“ über das Leben Hitlers im Ersten Weltkrieg und räumt dabei mit einigen Vorurteilen auf.

S-Mitte - Die Frage, wo Adolf Hitler die geistige, moralische und ideologische Ausstattung bekommen hat, mit der er zum vielleicht größten Menschheitsverbrecher werden konnte, beschäftigt die Historiker seit Jahrzehnten. Die Fronterlebnisse des Ersten Weltkriegs, die eine ganze Generation verstörten, standen dabei auch immer im Blickpunkt. Ob sie aber wirklich die Keimzelle von Hitlers epochalem Vernichtungs- und Eroberungswillen sind, hat der im schottischen Aberdeen lehrende Thomas Weber zu klären versucht. Er berichtete am Dienstag in der Reihe „Geschichte im Rathaus“ im gut besuchten Großen Sitzungssaal über seine Forschungen.

„Hitlers erster Krieg“, so der Titel von Buch und Vortrag, war nicht so, wie ihn die spätere Nazipropaganda darstellte. Vor allem „Mein Kampf“ scheidet als glaubwürdige Quelle aus. Hinzu kommt, dass Hitler generell mit einer auffallenden Besessenheit dazu neigte, die Spuren seiner frühen Jahre wie auch der Familie zu verwischen, ja auszulöschen. Erstaunlich kurz und rigide kanzelte Weber die Untersuchungen ab, die sich mit den Bohemejahren des Postkartenmalers mit Wohnsitz im Männerheim im Wien des antisemitischen Bürgermeisters Karl Lueger beschäftigt haben. Die seien weniger wichtig für die Prägung des späteren Diktators, sagte Weber.

Erkenntnisse und Ungereimtheiten

Ein paar Erkenntnisse und Ungereimtheiten zur Vita des „böhmischen Gefreiten“ und Kriegsfreiwilligen Adolf Hitler während des Ersten Weltkriegs sind bereits bekannt: dass der Meldegänger („trockenes Bett, wenig Beschuss“) eher in der sicheren Etappe der Westfront pflichtbewusst seine Aufgaben versah, als in „Stahlgewittern“ und Schützengräben; dass er aber mehrfach verwundet wurde, darunter die zeitweilige Erblindung nach einem Gasangriff gegen Kriegsende; dass er zurückhaltend, aber nicht unbeliebt war; dass ihn ausgerechnet der ranghöchste jüdische Offizier und Regiments-Adjutant Hugo Gutmann 1918 für das Eiserne Kreuz erster Klasse vorgeschlagen hatte.

Der Historiker hat nun die 1932 verfasste Regimentsgeschichte der unter anderem in Flandern-, Somme- und Marneschlacht eingesetzten bayerischen Einheit „List“ untersucht, private Unterlagen bei Nachfahren von Kameraden Hitlers entdeckt und die brieflichen und publizistischen Quellen aus Nachkriegs- und Nazi-Zeiten zu Hitlers Rolle noch einmal unter die Lupe genommen. Das Ergebnis ist für ihn eindeutig: Hitlers Rolle an der Front wurde für einen Kameradschafts-Mythos instrumentalisiert und verfälscht. Echte Zeugen, erst recht bei kritischen Aussagen über Hitler, kamen ins Visier der Gestapo und wurden mundtot gemacht, vertrieben oder ins Konzentrationslager gesteckt wie etwa sein Kamerad Korbinian Rutz. Ein Feigling, wie in manchen Rezensionen fälschlich dargestellt, sei Hitler freilich nicht gewesen, eher ein „Etappenhengst“, sagte Weber.

Der Erfolg als Bierkeller-Redner

Aber die Frontjahre kommen als Keimzelle für Hitlers völkisch-chauvinistische Radikalisierung und seinen Antisemitismus dennoch nicht in Frage: „Das hat nicht im Ersten Weltkrieg stattgefunden“, meinte Thomas Weber. Antisemitische Indoktrination habe es nicht gegeben, meinte er, auch mit Hinweis auf das Wahlverhalten der bayerischen Weltkriegs-Soldaten. Außerdem habe sich Hitler direkt nach dem Krieg sogar zunächst kurz den Revolutionären der Münchner Räterepublik angeschlossen und nicht den rechten Freikorps.

Was aber dann, wenn auch die Wiener Jahre für Hitlers Radikalisierung ausscheiden? Der Historiker ist sich sicher: „Dies ist in dem Jahr zwischen dem Kriegsende und dem Herbst 1919 passiert“, als Hitler seine ersten Erfolge als Bierkeller-Redner der Deutschen Arbeiterpartei hatte. Davon soll Webers nächste Untersuchung handeln.