Der russische Präsident Wladimir Putin spricht seinem Nachbarland das Existenzrecht ab. Das ist nicht nur politisch, sondern auch historisch falsch. Die Ukraine hat eine lange Geschichte – und diese ist eng mit dem russischen Bruderland verbunden.
Kiew - Am Anfang war Rurik, der Edelmann „von der anderen Seite des Meeres“, der von den miteinander verfeindeten slawischen Stämmen der Ilmenslawen, Kriwitschen, Tschuden und Wes angerufen wurde, ihr Herrscher zu sein. Das war im Jahr 862, und der Fürst zählte zum Stamm der „Rus“ – die Keimzelle russischer Staatlichkeit. Der weise Herrscher machte rasch Kiew am Fluss Dnjepr zum Zentrum des frühen Reiches.
Im Jahr 988 ließ sich Großfürst Wladimir auf der Krim taufen, die Christianisierung hielt Einzug – was gemeinhin als der Beginn der russischen Geschichte gilt. Im Jahr 1000 umfasste die Rus alle slawischen Stämme und reichte von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer.
Schmelztiegel verschiedener Stämme
Ein ethnisch homogenes Gebilde war es nicht, sondern, wie damals üblich, ein Schmelztiegel vieler Stämme. Gut vier Jahrhunderte währte dieses frühe Reich, ehe es von den Mongolen eingenommen wurde. Später herrschten die Tataren, Kiew geriet unter polnisch-litauische Herrschaft, der Raum Moskau strebte erst im 14. Jahrhundert zu größerer Geltung.
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Die Frage, wer der legitime Nachfolger des russischen Urreiches ist, lässt sich also nicht klar aus dieser Frühgeschichte destillieren. Doch wir finden bereits im Mittelalter eigenständige ukrainische Gebilde. Der Begriff „Ukraine“ wurde erstmals 1187 für die Region um Kiew verwandt. In einer byzantinischen Urkunde von 1380 fanden sich die Begriffe „Großrussland“ für das Moskauer Reich und „Kleinrussland“ für Kiew.
Zerrissen zwischen den Großmächten
Das waren alles noch fragile Gebilde, erst ab 1547 bildete sich unter Iwan dem Schrecklichen ein fester russischer Staat heraus. Der Moskauer Großfürst ließ sich zum Zaren krönen, seine Nachfolger erweiterten das Territorium. Für das Gebiet der Ukraine finden wir im 17. Jahrhundert unter Hetman Bohdan Chmelnyzkyj ein Kosakenreich (Hetmanat) mit ukrainischer Kultur und Sprache.
Die Region blieb ein ständiger Unruheherd, zerrissen zwischen den Großmächten Russland, Polen und dem Habsburgerreich. Die Zaren eroberten den östlichen Teil der Ukraine, während der Westen den Österreichern zufiel. 1709 besiegte Peter der Große in der Schlacht von Poltawa die Schweden und besetzte das Hetman-Reich – die ukrainische Sprache und Kultur wurden für 200 Jahre unterdrückt.
Russifizierung unter Katharina der Großen
Die multikulturellen Habsburger gestanden „Galizien und Lodomerien“, wie man die westlichen Gebiete damals bezeichnete, weitgehende Eigenständigkeit zu. Der Osten der Ukraine wurden hingegen unter Katharina der Großen „russifiziert“. So erklärt sich die heutige Zweiteilung der Ukraine in einen Landesteil, der einen westlichen Lebensstil propagiert und sich Europa zugehörig fühlt, während die östlichen Gebiete sprachlich, kulturell und historisch gen Moskau streben.
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Erst im 19. Jahrhundert entstand eine ukrainische Nationalbewegung, ausgehend von Lwiw, damals das habsburgische Lemberg. Der Historiker Mychajlo Hruschewskyj entwickelte eine neue Vorstellung einer eigenen Identität. „Das ukrainische Problem kann weder aus der Welt geschafft noch totgeschwiegen werden“, schrieb er.
Wunsch nach einer eigenen Nation
Während Moskau vom „Strom der Geschichte“ und einer Kontinuität eines slawischen Volkes von der Kiewer Rus bis zur Neuzeit ausging, entwickelte er die Vorstellung einer eigenen Identität der Ukraine. Das 19. Jahrhundert war das Zeitalter der Nationenbildung, die Einheit von Volk, Sprache und ethnischer Zusammengehörigkeit wurde zur Keimzelle der Staatsgründung – so auch hier. Im Mittelpunkt der ukrainischen Selbstständigkeit stand Kiew, in dessen intellektueller Szene Dichter und Historiker die Erzählung einer eigenen Nation verbreiteten.
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Ein Kulturkampf mit den Zaren entbrannte, 1863 verbot der russische Innenminister Pjotr Walujew wissenschaftliche und religiöse Publikationen auf Ukrainisch, später folgt der Emser Erlass des Zaren Alexander II., der sämtliche ukrainische Publikationen untersagte.
Die Freiheit währt nur kurz
Doch bei großen Teilen der ukrainischen Bevölkerung bewirkte die Unterdrückung das Gegenteil: Sie pflegten ihre Sprache, die entgegen russischer Propaganda nicht nur ein russischer Dialekt ist. Und sie hielten an ihrer Identität fest, worauf viele Ukrainer heute stolz verweisen.
Erst 1917 in den Wirren der Oktoberrevolution entstand, unterstützt vom angeschlagenen Deutschen Reich, eine Ukrainische Volksrepublik, die aber nur drei Jahre währte, 1920 marschierte die Rote Armee ein. Die Ukraine wurde 1922 Teil der Sowjetunion, eine „Sozialistische Volksrepublik“, eingezwängt in kommunistische Kollektivierung und Gewaltherrschaft.
Millionen Tote unter Stalin
In den 30er Jahren führten von Moskau angeordnete extrem hohe Getreideabgaben zu einer Hungersnot, der 3,5 Millionen Menschen zum Opfer fielen, viele Historiker sprechen von Völkermord.
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Als 1991 das kommunistische Reich zerfiel, wurde die Ukraine wieder unabhängig. Unter den Präsidenten Leonid Krawtschuk und Leonid Kutschma etablierte sich eine postsowjetische, korrupte Clanwirtschaft. Erst die Revolutionen 2004 und 2014 auf dem Maidan läuteten eine neue, demokratische Epoche ein – zumindest in der Westukraine.
1000-jährige Geschichte statt „Erfindung Lenins“
Es ist also eine wechselvolle Geschichte voller gegenseitiger Verletzungen – die über 1000 Jahre zurückreicht. Die Ukraine ist weit mehr als eine „Erfindung von Lenin“ – sie strebte immer nach Unabhängigkeit, hatte jedoch nur wenig Gelegenheiten, zwischen den Machtblöcken eine eigene Identität zu finden. Und diesen Status hat sie de facto bis heute.
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