Hilde und Kurt Vohl in jungen Jahren. Kurt Vohl starb kurz vor Ende des zweiten Weltkriegs. Foto: privat

Julius Vohl war Gemeinderat, Kommunist und kam 1943 unter ungeklärten Umständen zu Tode. Obwohl sie ihn nie kennengelernt haben, wird seine Geschichte immer ein Teil seiner beiden Enkel sein.

Rohr - Als die Vaihinger Naturfreunde ihren 100. Geburtstag gefeiert haben, hat Karin Dorsch die Geschichte ihres Großvaters Julius Vohl zum ersten Mal einem größeren Publikum erzählt. Es ist eine Geschichte, die betroffen macht und die Rohrerin bis heute umtreibt. Ihrem Bruder Kurt Schrimm geht es da nicht anders. Die meisten kennen ihn als Leiter der Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg, die wenigsten wissen, dass er seine Kindheit in Rohr verbrachte. „Noch heute bin ich wahnsinnig nervös, wenn jemand aus der Familie nicht zur vereinbarten Zeit nach Hause kommt“, sagt Schrimm. Er hat an diesem Freitagmorgen auf dem Weg nach Stuttgart bei seiner Schwester in Rohr Station gemacht. Nun sitzen sie sich am Wohnzimmertisch gegenüber und schauen sich alte Fotos an.

Als Unfall zu den Akten gelegt

Wie muss sich erst ihre Mutter Hilde am 8. Juni 1943 gefühlt haben? Es ist der Tag, der das Gefüge einer ganzen Familie durcheinanderbringt. Kurt Schrimm (Jahrgang 1949) ist damals noch nicht geboren, Karin Dorsch sollte erst einige Wochen später das Licht der Welt erblicken. Am 8. Juni kehrt Julius Vohl am Abend nicht ins Haus an der Schönbuchstraße zurück. Die ganze Nacht hindurch suchen ihn Tochter Hilde und Sohn Kurt. Erst am anderen Tag finden sie ihn in seiner Bauhütte. Er ist bewusstlos und am Kopf schwer verletzt. Julius Vohl kommt ins Bürgerhospital und stirbt an einer Gehirnblutung. Es wird nie aufgeklärt, was genau passiert ist. Seine Frau Sophie ist sich freilich bis zu ihrem Tod sicher: Ihr Mann ist keines natürlichen Todes gestorben, ein Nazi-Fanatiker hat ihn getötet. „Als Regimegegner konnte man damals aber nicht auf die Pauke hauen“, sagt Karin Dorsch. Der Vorfall wird als Unfall zu den Akten gelegt.

Julius Vohl heiratet am 1. Mai

„Kontakte zu den prominentesten Persönlichkeiten im Ort“

Um zu verstehen, wie es dazu kommen konnte, muss man die Zeit zurückdrehen. Julius Vohl war durch und durch Rohrer. Er lernte das Maurerhandwerk und schloss sich schon in frühen Jahren der Arbeiterbewegung an. „Wisst Ihr, das war ein anderer Kommunismus als heute, wir wollten nur, dass es den Arbeitern besser ging.“ Diesen Satz ihrer Großmutter hat Karin Dorsch nie vergessen. Von wegen Umsturz, in Rohr hatte der Kommunismus einen starken bürgerlichen Anstrich. „Heute würde man wohl eher von einer Gewerkschaftsbewegung sprechen“, sagt Dorsch. Julius Vohls Idealismus war groß. So hat er auch den 1. Mai im Jahr 1909 zum Hochzeitstag erkoren. An diesem Tag knüpfte er mit Sophie Elsäßer aus Musberg das Band der Ehe. Zunächst wohnte das Paar mit den beiden Kindern Emma (geboren 1910) und Hilde, eigentlich Hildegard, (geboren 1921) in der Villa des Kommerzienrates Werlitz. Es war die Zeit, in der sich Rohr zum Luftkurort mauserte und zahlreiche Kurgäste anlockte. Die junge Familie baute sich, unterstützt von anderen Handwerkskollegen, ein Haus an der Schönbuchstraße. Damals die beste Gegend in Rohr.

„Mein Großvater hatte Kontakte zu den prominenten Persönlichkeiten am Ort“, sagt Karin Dorsch. Julius Vohls Wort zählte. Er wurde Maurerpolier bei der renommierten Baufirma Kübler und war in Rohr derart beliebt, dass er bei einer Gemeinderatswahl in den 20er-Jahren die meisten Stimmen erhielt. „Meine Mutter hat immer wieder von ihrer behüteten Kindheit erzählt und welche große Rolle ihr angesehener und geachteter Vater spielte“, sagt Dorsch. Seine Meinung war gefragt, beispielsweise wenn es darum ging, einen neuen Lehrer zu begutachten oder ein Fest zu organisieren, als die Straßenbahn im Oktober 1928 nach Rohr kam. Julius Vohl war Mitglied im örtlichen Kleintierzüchterverein, vor allem die Hasenzucht hatte es ihm angetan. Er gehörte auch dem Badeverein an, der das Rohrer Waldfreibad im Schmellbachtal baute. Dafür übernahm er sogar eine Baubürgschaft.

Der Großvater zieht sich zurück

Glück im Unglück

Doch die politischen Verhältnisse änderten sich, als 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kamen. „Mit der Idylle war es vorbei“, sagt Dorsch. Aus dem angesehenen Bürger wurde ein Geächteter. Der Familie wurden die Fenster eingeworfen, die damals 13-jährige Hilde traute sich nicht mehr aus dem Haus. Julius Vohl zog sich völlig zurück, doch das schützte ihn nur bedingt. Eines Morgens um 4 Uhr wurde er verhaftet und kam ins Konzentrationslager Heuberg, wo zwischen März und November 1933 mehr als 2000 Kommunisten, Sozialdemokraten und Mitglieder anderer Parteien festgehalten wurden. Eine Reihe von Häftlingen starb an den Folgen der Misshandlungen. Julius Vohl hatte Glück und einen Chef, der sich für ihn einsetzte. Er kam wieder frei und kehrte nach Rohr zurück. Was er im Lager Heuberg erlebt hat? Es war nie Thema. „Man hat sich wohl einfach gefreut, dass er wieder da ist“, sagt Karin Dorsch. Kurt Schrimm ergänzt nachdenklich: „Man fragt sich schon manchmal, warum man diese Fragen nicht früher gestellt hat.“ Doch heute gibt es niemanden mehr, den er und seine Schwester fragen könnten.

Erst hofiert, dann schikaniert

Nach seiner Rückkehr zog sich Julius Vohl noch mehr zurück, auch vom Kleintierzüchterverein hielt er sich fern. Ein Freund hatte ihn vor den einstigen „Freunden“ mit den Worten „Die Nazis wollen dir politische Umtriebe unterstellen“ gewarnt. Für die gesamte Familie hatte sich das Leben verändert. Da Hilde nicht Mitglied im Bund Deutscher Mädel (BDM) war, mussten sie und noch zwei andere Kinder immer samstags in die Schule. Die Lehrer ließen ihren Ärger an den Kindern aus. „Die Schulzeit war für unsere Mutter eine solche Qual, dass die Großeltern später dem fünf Jahre jüngeren Bruder Kurt mit blutendem Herzen erlaubten, zur Hitlerjugend zu gehen“, erzählt Dorsch. Erst als Gemeinderatskind hofiert und dann schikaniert. Es sind Geschichten wie diese, die die Rohrerin, die seit vielen Jahren Vorsitzende des Schwäbischen Albvereins Vaihingen ist, noch heute den Kopf schütteln lassen: „Am meisten schockiert mich immer noch, wie in einem totalitären System das Schlechte der Menschen nach oben kommt.“ Das ist auch nicht ohne Auswirkungen auf sie selbst geblieben: „Ich bin leidenschaftliche Pazifistin“, sagt Dorsch. Ihren Bruder hat die Familiengeschichte zwar auch geprägt, aber nicht im Hinblick auf seinen beruflichen Werdegang, der ihn zum Chef der Nazifahnder machte: „Das war Zufall und hatte dafür keine Bewandtnis“, sagt Schrimm bestimmt. Ohnehin kann er mit einem Begriff wie „Nazijäger“ wenig anfangen: „Wir machen keine Beute, wir überprüfen, ob jemand gegen das Gesetz verstoßen hat“, hat er jüngst der Stuttgarter Zeitung in einem Interview gesagt.

Genau wie seine Schwester hat er die Geschichte seines Großvaters immer wieder erzählt bekommen. „Meine Großmutter hat sich an mich gehalten“, erzählt Karin Dorsch, die lange Zeit auch bei ihrer Oma geschlafen hat. Halbe Nächte lang habe sie den Familiengeschichten gelauscht. Längst sind sie ein Teil von ihr geworden. „Wir haben unsere Großmutter nie lachen sehen“, sagen Kurt Schrimm und Karin Dorsch unisono. Sophie Vohl hatte dabei nicht nur diesen einen brutalen Schicksalsschlag zu verkraften. Im Jahr 1945 kurz vor Kriegsende fiel Sohn Kurt, der spät noch eingezogen worden war. „Das hat unserer Großmutter endgültig das Genick gebrochen“, sagt Dorsch. 15 Jahre später starb Sophie Vohl: „Sie war frühzeitig gealtert und lebte mit ihren Erzählungen in der Vergangenheit“, ergänzt die Enkelin.

Die rote Fahne wird versteckt

Aus der roten Fahne wurde ein Kleid

Wenn Karin Dorsch heute aus ihrem Küchenfenster schaut, blickt sie auf das Haus, das einst Julius Vohl baute. Es befindet sich nicht mehr in Familienbesitz und das einstige Backsteinhaus hat eine Holzfassade bekommen. Dort, wo einst die Honoratioren ein und aus gingen, wo Bilder von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht an der Wand hingen und die rote Fahne am 1. Mai aus dem Fenster gehängt wurde. Als die Nazis an die Macht kamen, wurden die Bilder versteckt, die rote Fahne unter der Matratze deponiert. „Die Großmutter hat darauf geschlafen“, sagt Dorsch. Später sei die Fahne dann umgefärbt und daraus ein schwarzes Kleid für Hilde gemacht worden. Geblieben sind nur die Erzählungen. „Man hat damals nicht viel aufgehoben, man konnte ja nicht ahnen, dass diese Geschichte viel später mal so im Mittelpunkt stehen würde“, sagt Dorsch. Nach dem Krieg habe man andere Sorgen gehabt. Wie Julius Vohl wirklich zu Tode kam, hätte sich aber wohl auch damals nicht mehr klären lassen. Dies wirkt viele Jahre danach noch nach. „Unsere Mutter Hilde war völlig unpolitisch, auch mit Vereinen wollte sie nichts am Hut haben“, sagt Kurt Schrimm. Als die Diamantene Hochzeit anstand, lehnte sie kategorisch alles ab, was dies einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht hätte.

Wie im Flug ist die Zeit vergangen, Karin Dorsch muss los, ein Jahrgangstreffen in Kirchheim am Neckar wartet, Kurt Schrimm will zu den Kollegen nach Stuttgart. Der Alltag geht weiter und doch wird die Geschichte Julius Vohls immer ein Teil der Geschwister sein. Das Leben eines Kommunisten, der heute wohl ein konservativer SPD-Gemeinderat wäre. Seine Gesinnung war auch seinem damaligen Chef ein Rätsel: „Wie kannst Du Kommunist sein? Du hast doch ein eigenes Haus“, hat er mal gefragt. „Wir sorgen doch dafür, dass die Leute zu ihrem eigenen Häuschen kommen“, soll Julius Vohl gesagt haben. Als Karin Dorsch dies erzählt, lächelt sie. Obwohl er längst tot ist und sie ihn nie kannte, bleibt die Erinnerung an ihn doch lebendig.