Stafettenlauf von Gerlingen nach Seaham. In diesem Jahr, hundert Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs, führte der Weg über Verdun. Foto:  

Gerlingens Bürgermeister warnt vor Gleichgültigkeit gegenüber Nationalismen, ob in Chemnitz oder Stuttgart. Der überzeugte Europäer glaubt an die Macht des Dialogs gerade dann, wenn es Differenzen gibt.

Gerlingen - Georg Brenner unterhält Partnerschaften mit Frankreich, Ungarn, England und nach Thüringen. Ein Gespräch über die Macht des Dialogs.

Herr Brenner, Gefell liegt rund hundert Kilometer von Chemnitz entfernt. Was berichten Ihre Freunde aus Gefell über die rechtsextremen Ausschreitungen in Chemnitz?

Wir haben das beim Straßenfest angesprochen und waren uns schnell einig, dass dies eine schwierige Situation ist für Deutschland, dass die Bilder zu Recht im Ausland zu Unruhen und Ängsten beitragen können.

Gefell hat einen AfD-Anteil etwas höher als in Gerlingen, das eine Ausnahme darstellt im Landkreis. Die AfD holte bei der Bundestagswahl unter zehn Prozent.

Insofern hören wir aus Gefell nicht, dass die rechtsgerichtete Haltung als Mehrheitsmeinung wahrgenommen wird.

Aber?

Gerade für unsere Freunde aus Gefell, die direkt an der Zonengrenze gelebt haben, ist die Sichtweise, Rechtsnationalismus sei ein zentraleres Thema im Osten als im Westen von Deutschland, problematisch. Diese Betrachtung ist schwierig für alle, die dort Ihres dazu beitragen, diese Entwicklung zu bremsen.

Zu Recht?

Sicher, denn es ist ein gesamtdeutsches Thema. Man darf sich nicht in der alten Bundesrepublik dahinter zurückziehen, es sei ein Thema für das Gebiet der ehemaligen DDR. Wir sind ein Staat und müssen – egal wo wir wohnen – deutlich machen, dass das nicht die demokratische Bundesrepublik und der Umgang mit einer multikulturellen Gesellschaft ist, den wir in unserer Bundesrepublik wollen. Wenn man sieht, dass wir in fast allen Bundesländern einen AfD-Anteil von mehr als zehn Prozent haben, Abgeordnete des baden-württembergischen Landtags bei der AfD mitmischen und in Plenarsitzungen die europa- und fremdenfeindliche Haltung dieser Partei offenkundig wird, dann sind wir genauso gefordert.

Wo sehen Sie da Ihre Aufgabe?

Wo ich öffentlich auftrete, kann ich meine persönliche Haltung deutlich machen.

So, wie Sie beim Straßenfest an alle appellierten, zur Wahl zu gehen, wolle man die Bedeutung eines friedvollen Europas betonen. Der Gefeller Beigeordnete Mark Militzer hörten diese Worte ebenso wie Vertreter der englischen, französischen und ungarischen Partnerstadt. War die Stimmung beim Straßenfest dieses Jahr eine andere?

Die Gespräche waren geprägt von der politischen Aktualität. Wobei uns der Brexit schon beschäftigte, bevor die Abstimmung war. Danach dann erst recht – und wenn nur in Bemerkungen, wie ‚der Brexit bedeutet nicht den Brexit in der Freundschaft’. In den persönlichen Gesprächen fragt man schon nach der Motivation für die Entscheidung.

„Unser Verhältnis hat sich normalisiert“

Was antworten Ihnen die Engländer?

Zunächst bekommt man den Eindruck vermittelt, die Mehrheit sei rein zufällig zustande gekommen. Wenn man dann aber nachfragt, erfährt man schnell, dass nationale Gedanken eine Rolle spielen: das Inseldenken, das Abseitsliegen vom europäischen Kontinent, die Tradition als Weltmacht. Dazu kommt das Empfinden, dass die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft eine Handelsorganisation war, eine Wirtschaftsunion, nun aber viel mehr ist. Ihre Befürchtung ist, stärker reglementiert und bestimmt zu werden, als das bisher der Fall war. Wobei man beim Thema Reglementieren schnell bei Stammtischgesprächen ist.

Was entgegnen Sie?

Wir werfen in die Waagschale, dass die EU ausgehend von der Wirtschaftsunion, die sie ursprünglich war, wesentlich zur wirtschaftlichen Stärke beigetragen hat. Dass die EU als Kontinent gegenüber den anderen viel stärker auftreten kann und uns Frieden und Eintracht gebracht hat, zudem mit den offenen Grenzen eine Freiheit, die wir bisher nicht kannten; in den Ländern mit dem Euro zudem die Währungsfreiheit.

Den Euro wollte England nie. Das Argument des Friedens zählt nicht?

Leider nicht. Die Engländer waren sich vielleicht der Tragweite ihres Beschlusses nicht bewusst. Im persönlichen Gespräch und bei offiziellen Reden hingegen bekennen sie sich zu Europa. Sie sind vielleicht auch ein wenig naiv unterwegs, denn manchmal ist das Erschrecken groß, wenn wir sagen, sie hätten das mit allen Konsequenzen so entschieden.

Diskutieren Sie auch so deutlich mit Ihren ungarischen Freunden?

Das Gespräch über Politik ist mit den Ungarn sehr viel weniger intensiv als mit den Engländern. Das Verhältnis ist partnerschaftlich freundlich. Dass wir die europafeindliche Politik von Ministerpräsident Orban und seiner Fidesz-Partei nicht gutheißen, wissen die ungarischen Freunde, weil wir das sagen. In der Partnerschaft versuchen wir, uns auf kommunaler Ebene zu bewegen, auf der Freundschaft zwischen den Menschen und dem Austausch darüber, was in den Städten passiert.

Spüren Sie noch Vorbehalte?

Die waren unmittelbar nach meiner Ablehnung des ungarischen Verdienstordens2013 sehr viel größer als heute.

Ihr Tataer Amtskollege war Mitinitiator der Auszeichnung.

Unser Verhältnis hat sich normalisiert, so dass wir uns freundlich und kollegial begegnen, eben nicht mehr so freundschaftlich und herzlich wie zuvor.

Wie ist dagegen das Verhältnis zu den Freunden aus Vesoul?

Da gibt es überhaupt keine Barriere. Man hat eher den Eindruck, wir reden von Bundesland zu Bundesland. Wir wissen um unterschiedliche Strukturen, um gemeinsame und unterschiedliche Themen und um die aktuelle Kommunalpolitik. Und man nimmt Teil an diesen Entwicklungen.

Sie rufen auf, zur Wahl zu gehen. Was ist zudem Ihre Verpflichtung als Bürgermeister?

In der Partnerschaftsarbeit finde ich selten den Ansatz, so intensiv in die europäische Politik einzusteigen. Da ist uns wichtig, dass der Schüleraustausch funktioniert, sich Bürger begegnen, wir uns kommunalpolitisch austauschen, dass wir das Fundament sind. Aber gemeinsame Aktivitäten zu finden, die auf die Politik der Länder Einfluss nehmen, ist enorm schwierig. Da sind die Abgeordneten im Land und Bund und in Europa gefragt.

„Das Trennende in andere Bahnen lenken“

Etwa der Gerlinger Europaabgeordnete Rainer Wieland.

Wir sind da sehr im Gleichklang, aber Herr Wieland hat Vorbehalte, wenn man seiner Meinung nach zu schnell urteilt. Er weist dabei auch auf die Unterschiede in der Mentalität hin und dass aus der Vergangenheit ein gewisses Maß an Dankbarkeit insbesondere gegenüber Ungarn nicht vergessen werden dürfe.

Parteipolitik spielt vielleicht auch eine Rolle. Würden Sie sich wünschen, dass Wieland und Kanzlerin Merkel weniger zaudern?

Ich hätte mir gewünscht, dass man schon viel früher auf die Entwicklung in Ungarn oder anderen osteuropäischen Staaten reagiert hätte. Aber da gab es die Vorbehalte im Parlament.

Hätten Sie gerne mehr Einfluss?

Die Betrachtungsweise der Bürger in den einzelnen Staaten zu übertragen auf das Verhalten der Regierungen und des Europäischen Parlaments täte manchmal gut.

Was meinen Sie konkret?

Ein Beispiel. Vor zwei Jahren war mein Amtskollege aus Tata und acht seiner Bürgermeisterkollegen zu einem mehrtägigen kommunalpolitischen Austausch zu Gast. Wir haben uns auch über Flüchtlingspolitik und -betreuung unterhalten. Kollege József Michl hatte in der Vorbereitung angedeutet, dass er gerne eine Unterkunft sehen wolle. Wir waren in einer Unterkunft für die vorläufige Flüchtlingsunterbringung. Es war eine mehrstündige Begegnung mit Flüchtlingen aus Syrien, Irak, Afghanistan, Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen. Die Reaktionen reichten hinterher von Betroffenheit bis Vorbehalt. Es gab einen regen Austausch unter den ungarischen Gästen, was ich nur aus der Heftigkeit der Diskussion entnehmen konnte. Der Kollege aus Tata bedankte sich, Einblick bekommen zu haben, und lobte den persönlichen, sozialen und humanitären Einsatz. Ein anderer Kollege fragte mich, ob diese Veranstaltung nicht vorab abgesprochen und reglementiert worden sei.

Gerlingen ist Patenstadt der Landsmannschaft der Deutschen aus Ungarn. Die Ungarndeutschen haben die Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg mitaufgebaut. Der Umgang mit dem Fremden ist gewohnt, auch heute noch?

Man kann in der Geschichte der Stadt noch weiter zurückgehen, wenn man die Missionarszeit Mitte des 19. Jahrhunderts berücksichtigt, die auch das Fremde in die Stadt brachte. All das trug in der Stadt dazu bei, dass Multikulturelles zur Normalität wurde, bevor die Vertriebenen und die Gastarbeiter kamen.

Wie wirkt sich das heute aus?

Nur ein Beispiel: Vor Kurzem war ich bei einem Jubilar, der als Vertriebener in die Stadt gekommen war. Er erzählte, dass er seine persönliche Situation sehr im Einklang sieht mit den Menschen, die sich heute aus der Not heraus auf den Weg machen, die die gleichen Strapazen auf sich nehmen und zu Fuß die Heimat verlassen. Er hat viel Verständnis und Respekt für die Flüchtlinge. Das Bewusstsein, wo man herkommt, prägt diese Familien.

Apropos Fremder in der Stadt: Sie begrüßten den Ditzinger Oberbürgermeister Michael Makurath beim Gerlinger Straßenfest ebenso freundlich wie humorvoll.

Ich habe mich gefreut, dass er gekommen ist und das Publikum hat gezeigt, dass Gerlingen sehr daran gelegen ist zu zeigen, dass das Verhältnis nicht allein am Autobahnanschluss festzumachen ist.

Ditzingen will ihn, Gerlingen leht ab.

Wir sollten auf die Themen, die wir gemeinsam und erfolgreich bearbeiten immer wieder hinweisen. Das war für mich die Gelegenheit, das zu tun.

Ist das in dieser Zeit besonders wichtig?

Wir können nur dann erwarten, dass wir in Europa weiterhin erfolgreich zusammenleben, wenn wir es selbst vorleben. Wir sind die Keimzelle Europas, wir die Bürger Europas mit einem Einsatz im zwischenmenschlichen Bereich, der auf Freundschaft ausgerichtet, aber auch so gefestigt sein muss, dass man sich auch mal in Krisensituationen nicht entzweit, sondern immer noch das Verbindende sucht, daran arbeitet und damit versucht, das Trennende in andere Bahnen zu lenken.