Dirk Oestringer denkt über neue Verwaltungsstrukturen nach. Foto: factum/Simon Granville

Der Bürgermeister Dirk Oestringer ist seit 100 Tagen im Amt. Im Interview spricht er darüber, wie er die Wochen seit Anfang März erlebt hat, welche Probleme noch anstehen und was er im Rathaus ändern will.

Gerlingen - Verständnisvolle und engagierte Bürger, nicht nur in Zeiten der Corona-Krise – so erlebt Dirk Oestringer die Stadt Gerlingen und ihre Menschen. Es gibt viel zu regeln für den neuen Bürgermeister: Von den Auswirkungen der neuen Finanznot bis zum neuen Zuschnitt der Verwaltung im Rathaus.

Herr Oestringer, wie wären Sie ohne Corona ins Amt gestartet?

Klassisch, in Gesprächen und bei Terminen hätte ich die unterschiedlichsten Facetten der Stadt kennengelernt. Und man hätte mich als Bürgermeister kennengelernt. Er ging ja auch ein paar Wochen gut – bis Anfang März Corona zuschlug.

Wie haben Sie Stadt und Bürger bisher wahrgenommen?

In der Zeit, in der auch die Einschränkungen kamen, habe ich die Gerlingerinnen und Gerlinger als sehr verständnisvoll empfunden. Die Leute haben versucht zu verstehen, was die Gebote der Stunde sind, also weniger physische Kontakte herzustellen und sich mehr auf digitale Technik einzulassen. Wenn man erläutert hat, um was es geht, sind sie den Regelungen nachgekommen. Die Bürger hatten Verständnis und bildeten zudem Unterstützungsinitiativen, auch auf wirtschaftlicher Ebene. Mit Mein Gerlingen.digital wurde eine Plattform geschaffen für Einzelhändler und Gastronomen, um Lieferdienst und Abholservice zu organisieren.

Haben Sie sich bei alledem einbringen müssen oder war die Bevölkerung initiativ?

Sowohl als auch. Die Verbindung zwischen Stadtverwaltung und bürgerschaftlichem Engagement macht Gerlingen aus. Man kennt sich und weiß, wer etwas kann, sodass die Dinge schnell umgesetzt werden konnten, wie eben diese Plattform.

Sie sind neu in der Stadt. Wie sind Sie aufgenommen worden in den Kreisen, in denen es darauf ankommt, dass man sich kennt?

Es ist das Schöne, dass man in eine Verwaltung hineingekommen ist mit viel Erfahrung und Verbindungen. Das Rathausteam hat generell einen sehr guten Job in der Krise gemacht – und macht ihn auch heute noch. Und dann bin ich für jeden Termin, bei dem ich im vergangenen Jahr Menschen kennengelernt habe, sehr dankbar. Hier konnte man sich kennenlernen, ohne Krise und konkreten Anlass.

Wie schärfen Sie in diesen Tagen voller Einschränkungen Ihr Bild von der Stadt?

Im Wahlkampf ist die Intensität hoch, weil die Menschen auf einen zukommen. Das schätze ich am Amt des Bürgermeisters, dass er auf der einen Seite Entscheidungen trifft mit Verwaltung und Gemeinderat, aber auch auf Veranstaltungen ist und sofort ein Feedback bekommt. Wenn man Dinge öfter hört, erkennt man, da ist etwas unterwegs. Das ist jetzt sehr eingeschränkt. Auch da muss man Alternativen finden, auch wenn sie nicht so intensiv sind wie ein Gang durchs Straßenfest. Aber man kann reinhören auf Gerlingen aktuell, schauen, was die Themen auf Facebook oder Instagram sind. Das war für mich auch der Anlass, die neuen Medien aktiv zu bespielen. Wir wollen Teil der Debatte sein.

Ein Beispiel?

Als wir auf Facebook eine neue Corona-Verordnung gepostet haben – es ging um Gottesdienste – kam sofort die Frage des türkisch-islamischen Kulturvereins, wie er den Ramadan gestalten kann. Dies haben wir in der Verwaltungsstabssitzung besprochen. Es ersetzt den persönlichen Kontakt nicht, aber es hilft, um sich trotz Social Distancing mit den Gerlingerinnen und Gerlingern auszutauschen.

Der Haushalt für 2020 ist beschlossen – und wegen Corona schon wieder Makulatur. Können Sie die Verluste beziffern?

Der Haushalt war notwendig, um ein Gerüst zu haben, um handlungs- und entscheidungsfähig zu bleiben. Den Einnahmenrückgang zu beziffern ist schwierig. Das wirtschaftliche Treiben nimmt zwar wieder Fahrt auf, aber die wirtschaftlichen Auswirkungen können auch die Unternehmen selbst schlecht beziffern. Dass es einen massiven Einbruch geben wird, davon ist auszugehen. Mitte Mai, mit der Steuerschätzung, wird man ihn näher beziffern können. Damit beginnt die Haushaltskonsolidierung, die nach der Sommerpause in einen Nachtragshaushalt mündet. Auch die Finanzplanung ist davon betroffen. Das Thema wird uns die nächsten Jahre noch beschäftigen. Wir planen allein für dieses Jahr Investitionen für zirka 30 Millionen Euro – da müssen wir auf jeden Fall ran. Im ersten Schritt streicht man nicht. Man schaut erst, was wir jetzt machen müssen und was man schieben kann.

Es stehen große Projekte an.

Für die Turnhalle Breitwiesen läuft der Tiefbau, auch bei der Realschule wird gebaut – das wird man nicht stoppen. Wir benötigen beide Gebäude. Es wäre die erste Priorisierung, zu Ende zu bringen, was man begonnen hat. Alles andere steht auf dem Prüfstand, da gibt es keine heiligen Kühe. Aber das ist ein Prozess, den wir jetzt erst begonnen haben.

Neben Investitionen prägen laufende Kosten die Ausgaben. Beispielsweise die Personalkosten für die Kitas.

Wir haben die Verpflichtung, die Plätze vorzuhalten, es gelten Personalschlüssel. Wir haben in der Vergangenheit die Möglichkeit gehabt, uns das leisten zu können. Mit dem Etat 2020 haben wir einen Stellenplan beschlossen. Der Gemeinderat wird jede einzelne Besetzung explizit unter den neuen Prämissen beschließen.

Wie wollen Sie beim Kita-Personal sparen? Das wird die Schwächsten treffen.

Was ich zur Stellenbesetzung sagte, bezieht sich grundsätzlich auf die Personalbesetzung. Die Kindergartenbedarfsplanung für 2020/2021 kommt am 12. Mai in den Gemeinderat, wir bleiben bei den hohen Standards. Bei der Ganztagsschule machen wir noch ergänzende Angebote bei der Kernzeit. Wir wären nicht dazu verpflichtet, haben das aber in der Vergangenheit getan, werden das auch in Zukunft tun – auch im Ausbau. Das wollen wir dem Gemeinderat vorschlagen. Jetzt sind wir doch in einer Priorisierung – die Kinderbetreuung ist weit oben angesiedelt. Wir haben keine Meldungen, dass Gewalt hochkocht in den Familien. Aber es sind die Alltagssorgen, die entstehen, wenn die Familien zwischen Homeoffice und Kinderbetreuung alles unter einen Hut bekommen müssen.

Die Situation ist in allen Kommunen neu. Tauschen Sie sich mit Amtskollegen aus?

Definitiv. Anfänglich war der Druck auf die Kommune sehr hoch, als es um die Absage von Veranstaltungen ging. Was empfehlen wir? Es gab keine Anleitung, das hat man auch nicht gelernt. So waren alle Kollegen in derselben Situation, ob sie einen Monat oder 16 Jahre im Amt waren. Wir haben uns im Strohgäu ausgetauscht, auch über den Landkreis hinaus. Denn die Bürger machen es ja auch nicht anders. Sie sagen: Hier wird die Veranstaltung abgesagt, aber dort findet sie noch statt. Inzwischen sind wir über neue Medien täglich verbunden. Die Unterstützung der kommunalen Spitzenverbände Gemeindetag und Städtetag ist hervorragend.

Sie haben andererseits schon erklärt, finanzielle Unterstützung zu fordern.

Die zweite Tranche für die Soforthilfe von Familien in Höhe von 100 Millionen wurde ausgeschüttet. Davon kommen in Gerlingen 127 000 Euro an, 50 Prozent davon sind für die Schulkindbetreuung und Kitagebührenerlass vorgesehen. Der Gebührenausfall pro Monat beträgt bei uns mehr als 160 000 Euro, vom Land erhalten wir dafür 63 500. Gerlingen trägt also immer noch rund 100 000 Euro pro Monat.

Die Unterstützung ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Sie deckt den Ausfall nicht. Andererseits: das Land wird erkennen, dass die Millionenpakete, die man auf den Weg gebracht hat, bezahlt werden müssen. Auch wir Kommunen sind betroffen. Insofern ist es wie linke Tasche, rechte Tasche. Aber natürlich sind wir für jede Hilfe dankbar.

Die finanzerfahrene Erste Beigeordnete Martina Koch-Haßdenteufel arbeitet seit Monatsbeginn in Kornwestheim. Wann soll ihre Stelle wieder besetzt sein?

Noch vor der Sommerpause. In Zeiten von Corona ist ein solches Stellenbesetzungsverfahren nicht ganz einfach. Nur ein Beispiel: wie können wir die Bewerbungsgespräche durchführen?

Steht neben Stellenbesetzung und Haushaltskonsolidierung noch etwas auf der Prioritätenliste oben?

In der Konstellation neuer Bürgermeister und neuer Erster Beigeordneter drängt sich auf, über die Struktur in der Stadtverwaltung nachzudenken. Das heißt nicht, in der Organisation alles neu zu machen.

Was möchten sie da verändern?

Wir sind am Beginn des Prozesses. Der muss diskutiert werden. Ich habe die Sicht auf viele Kommunen, bringe Ideen und Impulse mit. Es funktioniert hier sehr gut, aber man kann Dinge weiterentwickeln. Zu den Inhalten kann ich noch nichts sagen. Aber mir ist es wichtig, die Leute hier im Haus mitzunehmen, auch den Gemeinderat. Das Ziel ist es, in einem halben Jahr oder einem Jahr die Strukturen zu überprüfen und anzupassen. Die neue Verwaltungsspitze muss zusammen mit den Amtsleitern die neue Herausforderung annehmen und meistern.

Ein konkretes Beispiel?

Das Thema Verkehr und Mobilität ist in vielerlei Munde, da sind Herausforderungen da in naher Zukunft. Und es gibt viele Schnittstellen im Rathaus: zum Beispiel Verkehrsplanung und Tiefbau. Das gilt auch für die Digitalisierung. Es gibt eine Beauftragte dafür im Hauptamt, das Thema findet aber auch im Stadtbauamt statt. Wie bekommt man das in der Organisation hin? Und wir stehen an der Schwelle zur Großen Kreisstadt. Wenn ich mir über eine neue Aufbauorganisation Gedanken mache, muss ich bedenken, was es im Rathaus bedeutet, wenn Gerlingen Große Kreisstadt wird. Ein Beispiel: dann bekommen wir die Zuständigkeit für eine Ausländerbehörde. Wo siedeln wir die an?

Die Bürger haben dafür derzeit keinen Blick. Sie leben im Shutdown. Was würden Sie ihnen sagen wollen?

Wir haben bereits Corona-Lockerungen organisiert, zum Beispiel die Spielplätze geöffnet. Dennoch bleibt der Appell, dass die Leute sich an die Abstandsregeln halten. Wir stehen nicht sehr viel anders da als vor ein paar Wochen. Es wäre tragisch, würden wir wieder zurückfallen.

Man kann auch joggen mit Abstand. Sie sind der erste Gerlinger Bürgermeister, den man beim Joggen kennenlernt.

Im Gerlinger Wald trifft man viele Leute, wenn es nicht regnet. Es ist wichtig, auch da ansprechbar zu sein. Das geht mit Abstand auch in Corona-Zeiten.

Der Bürgermeister und die Stadt

Dirk Oestringer
wurde am 1. Dezember 2019 zum neuen Bürgermeister von Gerlingen gewählt – als Nachfolger von Georg Brenner, der Ende Januar 2020 mit 65 Jahren in den Ruhestand ging. Oestringer ist parteilos, der frühere Kommunalberater erhielt im ersten Wahlgang 67,7 Prozent der Stimmen. Seine Konkurrentin Martina Koch-Haßdenteufel, die langjährige Erste Beigeordnete, erreichte 28 Prozent. Sie arbeitet mittlerweile als Beigeordnete für Wirtschaft in Kornwestheim.

Gerlingen
Die Stadt unmittelbar an der Grenze zu Stuttgart gilt als eine der reichsten Kommunen in der Region Stuttgart – auch wegen der Konzernzentrale von Bosch. Die Stadt hat 19 800 Einwohner, die Infrastruktur ist gut ausgebaut, es wird weiter investiert.