Masken, wohin man sieht. Doch so unheimlich wie in Gerhard Roths Venedig-Roman haben sie selten zurückgeblickt.  Foto: Savchenko/AdobeStock

Venedig einmal anders: Gerhard Roth verstrickt in der „Irrfahrt des Michael Aldrian“ den Leser in eine Welt der Täuschung und des Trugs.

Stuttgart - Was ist das? Donna Leon für Fortgeschrittene? Der österreichische Autor Gerhard Roth war bislang für anderes zuständig als das, für was man „Die Irrfahrt des Michael Aldrian“, den ersten Band seiner neuen in Venedig angesiedelten Romantrilogie, zunächst halten könnte. Das Gebiet, das Roth seit dem Roman „Der Stille Ozean“ in zwei monumentalen Romanzyklen erkundet und kartografiert hat, ist die Geschichte Österreichs stellvertretend für die Mitteleuropas. Ein gewaltiges Massiv, durchbohrt von Erinnerungen, bewohnt von realen und fiktiven Gestalten, unterspült vom finsteren Quellgrund des Nationalsozialismus.

Und nun eine Geschichte, für die man auf den ersten Blick Commissario Brunetti für zuständig halten würde. Allerdings nur auf den ersten Blick. Michael Aldrian, ein Wiener Souffleur im Ruhestand, vollgepumpt mit Erinnerungen an große Szenen aus der Opern- und Kunstgeschichte, will seinen als Zeichner in der Lagunenstadt lebenden Bruder besuchen, um dort einen alternativen Reiseführer zu schreiben. Doch der Bruder ist verschwunden. Es beginnt eine Odyssee durch das winterliche Venedig. Mehrere Leichen, eine abgeschlagene Hand, Koffer von Falschgeld, ein mafiös getönter Kunstfälscherskandal und Rudel von Maskenträgern säumen den Weg. Aber wie kann man sich in der winterlich eingefrorenen Stadt nur so aufs Glatteis führen lassen, wie einige Kritiker, die Roth allen Ernstes schon unterwegs ins leichte Fach wähnen und brav die listig gelegten Spuren für bare Münze nehmen, und dabei gänzlich übersehen, wie tief ihre geschmackssichere Reserve gegenüber Kulturschauplatz-Schmonzetten sie bereits in dieses listige Schattentheater voller Irrwege, Kulissen und Täuschungen verstrickt hat.

Wucherndes Mythengewebe

Der 1942 geborene Gerhard Roth, der mit Thomas Bernhard und Peter Handke zusammen das Dreigestirn der zeitgenössischen österreichischen Literatur bildet, hat sowohl Medizin studiert, wie jahrelang das elektronische Gedächtnis seiner Heimatstadt Graz organisiert. Beide Disziplinen arbeiten sich bei seinem neuen Roman gegenseitig in die Hände. Seine Hauptfigur nähert sich dem vielbegangenen Terrain wie ein Pathologe der kulturellen Erinnerung.

Michael Aldrians Erkundungen geben in präzise geführten Gefrierschnitten den Blick auf den historischen Stadtkörper frei, auf das Kapillarsystem der Kanäle und Gassen, das immer weiter wuchernde Mythengewebe, die Verpuppungen der Geschichte. Aldrian, als Souffleur selbst eine Art wandelndes Archiv, streift durch das Archivio di Stato, eine Art NSA der Serenissima, deren europäisches Überwachungsnetz so dicht gesponnnen war, dass sich mit den hier aufbewahrten Unterlagen noch feststellen lässt, welche Kleider Ludwig XVI. am Tag seiner Hinrichtung getragen hat. Masken, wohin man sieht. Doch so unheimlich wie hier haben sie selten zurückgeblickt. Der Begriff Märchenstadt nimmt in dem frostigen Licht dieses Roman eine andere Färbung an. „Das venezianische Gehirn, das diese Märchen erfunden hat, hat selbstverständlich zwei Hälften. Die eine speichert historische Ereignisse und Lügen, die andere ist das Reich der blühenden Phantasie, der Kunst, der Religion.“

Der Kommunikation dieser zwei Hälften lauschen Gerhard Roth und sein so kunstsinniger wie skrupelloser Held eine befremdliche Geschichte ab. Alles Pittoreske und Kulturtouristische verwandelt sich darin in einen unheimlichen Verblendungszusammenhang. Fake News des Wahren und Schönen.

Gerhard Roth: Die Irrfahrt des Michael Aldrian. Roman. S. Fischer Verlag. 496 Seiten, 25 Euro.