Die SPD setzte im Wahlkampf auf das Thema Gerechtigkeit. Foto: dpa

Einheit kommt nicht zuletzt von Gerechtigkeit – aber gibt es die? StN-Chefredakteur Christoph Reisinger geht der Frage in seinem Leitartikel auf den Grund.

Stuttgart - „Deutschland, einig Vaterland“ – gilt heute, 27 Jahre nach dem Beitritt der DDR zum Bundesgebiet, was Johannes Becher in seiner DDR-Hymne beschwor? Wer zuletzt den Wahlkampf der Linken und, eher überraschend, der Regierungspartei SPD erlebt hat, musste ein anderes Bild gewinnen: Demnach wäre Deutschland wieder gespalten. In Arm und Reich. In Chancenlose und Aufsteiger.

Mit dem bissigen Kommentar „Ja, das ist wie mit der Kuh, die in dem Teich, der 50 Zentimeter tief war, ertrunken ist“ hat Linke-Fraktionschef Dietmar Bartsch zuletzt im Bundestag die Tatsache relativiert, dass Privatvermögen, Wohlstand, Realeinkommen im Allgemeinen erheblich höher sind als noch 1990. Zweifellos hat er recht mit der Kernaussage dieses Satzes, wonach die reine Betrachtung von Durchschnittswerten wenig bringt, wo es um die Beurteilung individueller Schicksale geht. Aber die Linke überzieht und verzerrt die Wahrheit, wenn sie von „skandalöser Armut“ in Deutschland spricht.

Nicht nur oberen Zehntausend profitieren

Denn so wahr es ist, dass Reiche in Deutschland ihr Vermögen viel schneller vermehren als weniger Reiche – so wenig lässt sich trotz aller bedauerlichen Ausnahmen bestreiten: Von Stärke und Boom der Wirtschaft profitieren keineswegs nur die oberen Zehntausend. Auch kleine und mittlere Einkommen haben sich zuletzt verbessert. Spürbar und für viele.

Da liegt die Erklärung, warum der so sehr auf den angeblichen Mangel an Gerechtigkeit gemünzte Wahlkampf der SPD zum Rohrkrepierer wurde. Er zielte souverän am Erleben der meisten Wahlberechtigten vorbei. Mit ihrem schlechtesten Ergebnis seit 1949 haben die Sozialdemokraten die Quittung dafür bekommen, dass sie das Land – und nebenbei ihre eigene Regierungsleistung – ungebührlich schlechtgeredet haben.

Nur, die gute Lage ist kein Ruhekissen. Es gibt drängende Gerechtigkeitsfragen. Anders als im Wahlkampf oft behauptet, zählt dazu weniger, ob diejenigen noch mehr Steuern und Abgaben zahlen, die den Laden im Wesentlichen ohnehin schon finanzieren. Aber neue Formen von Abstieg tun sich auf, und manche Hürde vor dem Aufstieg wächst. Das eine wie das andere harrt der politischen Bearbeitung.

Welche Lasten werden den nachfolgenden mitgegeben?

Ungerecht ist, wenn Menschen, die fast ein ganzes Leben arbeiten mussten, aber keine Angehörigen haben, ihren Lebensabend in Einrichtungen oder unter häuslichen Umständen verbringen, in denen die Menschenwürde auf der Strecke bleibt. Das ist hierzulande ein großes Zukunftsthema. Eines von denen, über die sich Gerechtigkeit immer stärker definieren wird.

Wie auch darüber, welche Lasten welche Generation trägt. Der – nicht nur in Deutschland – ungebremste Schuldenwahn von Parlamenten und Regierungen bewirkt ja vor allem dies: Die Generationen, die aktuell die Wahlausgänge bestimmen, engen hemmungslos den politischen Spielraum der nachfolgenden ein. Der wird schließlich wesentlich davon bestimmt, was der Staat bezahlen kann.

Wesentlicher Faktor für den Zusammenhalt der Gesellschaft und für die Stabilität der Demokratie bleibt: Wer hat Aussicht, seine Lage aus eigener Kraft zu verbessern? Wer kann Chancen nutzen, oder sind diese nur wenigen vorbehalten? Dass sich da die Kluft vergrößert, dass Bildungsbiografien viel zu stark von der sozialen Herkunft abhängen, dass sich gesellschaftliche Milieus heute eher gegeneinander abgrenzen als vor 27 Jahren – das ist ein alarmierender Befund. Es sind diese Formen von Ungerechtigkeit, an denen die Einheit in Deutschland Schaden zu nehmen droht.

christoph.reisinger@stuttgarter-nachrichten.de