Siegtor im WM-Finale 1974: Gerd Müller (mit DFB-Trainer Helmut Schön). Foto: dpa

Sein Schicksal berührt die Menschen so sehr, wie seine Tore sie einst begeisterten. Tore, die den FC Bayern und Deutschland zur Fußball-Macht werden ließen – und über die sich für den Alzheimer-Patienten Gerd Müller der Schleier des Vergessens gelegt hat.

Stuttgart - Für einen, dessen Karriere mit einem kolossalen Missverständnis begann, hat es Gerd Müller erstaunlich weit gebracht. Als er Mitte der sechziger Jahre beim FC Bayern anheuerte, zahlte ihm der Verein 160 Mark im Monat. Und weil München schon damals etwas teurer als andere Städte war, verschaffte ihm der Club einen Halbtagsjob als Möbelpacker, der ihm zusätzlich 400 Mark einbrachte. Wäre es nach dem damaligen Trainer Zlatko „Tschik“ Cajkovski gegangen, dann hätte dieser 19 Jahre alte Stürmer, der für seinen Heimatverein TSV 1861 Nördlingen in der Bezirksliga einmal 197 Tore in einer Saison erzielt hatte, auch ganztägig Tische und Schränke ausliefern können. „Was ich sollen mit solche Spieler?“, schimpfte Cajkovski, „haben unmögliche Figur, kann nie werden große Fußballer.“

Er wurde einer der größten.

Müller, der 1,77 Meter große Junge mit der unmöglichen Figur, erzielte 365 Tore (in 427 Bundesligaspielen) für die Bayern, 40 davon allein in der Rekordsaison 1971/72, dazu 78 Tore im DFB-Pokal, 68 Tore (in 62 Länderspielen) für Deutschland, alles in allem 1455 Treffer in 1204 Pflicht- und Freundschaftsspielen. Mit 32 Jahren wurde er zum siebten und letzten Mal Torschützenkönig der Bundesliga. „Es hat gemüllert“ wurde zum festen Begriff. Außerdem war er Europameister (1972), Weltmeister (1974) und Weltpokalsieger (1976), je viermal deutscher Meister (1969, 1972, 1973, 1974) und Pokalsieger (1966, 1967, 1969, 1971), und den Europapokal der Landesmeister hat er auch gewonnen, dreimal sogar (1974, 1975, 1976). „Ohne die Tore von Gerd wäre der FC Bayern nicht das, was er heute darstellt, mit diesem Palast an der Säbener Straße – ich glaube, ohne ihn wären sie heute noch in dieser Holzhütte von früher“, sagt Franz Beckenbauer über seinen früheren Mitspieler. Paul Breitner widerspricht da nicht: „Seien wir ehrlich. Das damals, das war alles der Gerd.“

Ex-Trainer Dettmar Cramer nannte Müller liebevoll „Gerdchen“

Nächsten Dienstag wird der Mann, den Cajkovski „kleines, dickes Müller“ und sein späterer Trainer Dettmar Cramer liebevoll „Gerdchen“ nannte, 70 Jahre alt. Kein Tag zum Jubeln: Das Schreckgespenst aller Verteidiger seiner Zeit ist heute ein Phantom. Abgetaucht in einem Pflegeheim bei München. Gerd Müller leidet unter Demenz aufgrund einer Alzheimer-Erkrankung. Sie blockiert sein Denk- und Sprachvermögen, sogar die Alltagsroutine überfordert ihn. An schlechten Tagen, schreiben die Autoren seiner Biografie „Der Bomber der Nation“ (2015, Riva-Verlag), erkennt er nur noch seine Frau Uschi. Der Mann, der dank seiner Tore unvergessen bleiben wird, verliert zusehends den Kampf gegen das Vergessen.

Triumph und Tragik.

Zwischen diesen Polen lebt Müller. Das war schon in den neunziger Jahren so, als er dem Alkohol verfallen war. Der damalige Bayern-Manager Uli Hoeneß lieferte ihn in eine Entzugsklinik in Murnau ein und stellte ihn, als er trocken war, als Co-Trainer der zweiten Mannschaft und als Jugendtrainer ein. Wenn Müller mit der Bayern-Reserve durchs Land tingelte, stellten ihn die Stadionsprecher namentlich vor. Der Applaus war Balsam auf seine geschundene Seele – und immer noch Anerkennung für seine Tore, die den FC Bayern, Fußball-Deutschland und ihn groß gemacht haben. Auch deshalb, weil die Zeit und Müller selbst damals so waren, wie sie waren.

Sänger Müller mit Krone und Zepter: „Dann macht es bumm“

Sponsoren, Vermarkter, Berater und PR-Profis – gab es schon, aber zehn Nummern kleiner (und leiser) als im heutigen Messi-Zeitalter. Stars wie Müller gaben ab und zu eine Autogrammstunde und warben allenfalls für den Hersteller ihres Trainingsanzugs. Oder sie nahmen, ganz exzentrisch, eine Platte auf wie Müller 1969, mit Krone auf dem Cover und Zepter in der Hand: „Dann macht es bum, ja, und dann kracht’s, und alle schrei’n, der Müller macht’s.“

Und wie er es machte! Mit dem Kopf, mit der Brust, der Schulter, dem Knie, dem Fuß und dem Hintern, im Stehen, Liegen, Fliegen und im Sitzen. Müller legte keinen Wert auf Kunststücke oder Schnörkel. „Sein unbändiger Torhunger macht ihn zum Allesfresser“, sagte Braunschweigs Torhüter Horst Wolter, dem Müller die meisten Tore einschenkte, „er nimmt die Bälle, wie sie fallen. Abpraller, Abfälscher, Abtropfer, Querschläger, Trudler.“ Hauptsache drin.

Von wegen Bomber der Nation! Müller war der Mann für die schrägen, die unorthodoxen Treffer. „Nicht einfach draufhauen“, sagte er, „man muss den Ball auch mal schieben oder lupfen. Kleine Tore zählen auch.“ Jahrelang sinnierten die Experten, wie er das macht, am Ende einigten sie sich auf den Viersatz: kurze Beine, tiefer Schwerpunkt, schnelle Drehungen und Instinkt, immer dieser Instinkt. „Speziell trainiert habe ich nicht. Ich hatte diesen Riecher, also war ich meist schneller als die Verteidiger“, sagte er einmal. Wer ein typisches Müller-Tor sehen will, der muss nur noch einmal das WM-Finale von 1974 anschauen. 7. Juli, Deutschland – Niederlande, 43. Minute: Nach der Flanke von Rainer Bonhof prallt ihm der Ball vom Fuß, doch Müller schaltet schneller als alle anderen, dreht sich, schießt und trifft. 2:1, Deutschland ist Weltmeister. „Klar ist mir der Ball versprungen“, erzählte er später, „aber hätte ich ihn perfekt gestoppt, wäre am Ende ein Verteidiger noch rangekommen.“

Gerd Müller wollte nie mehr sein, als er ist

Diese Ehrlichkeit und Bescheidenheit zeichnete ihn ebenso aus wie sein Torriecher. Allzeit mied Müller das Scheinwerferlicht, er war ein Star wider Willen. Abseits des Platzes wirkte er immer ein wenig linkisch, häufig fielen ihm keine passenden Antworten auf die Fragen der Reporter ein. Er war nicht schlagfertig, aber auch nie peinlich, im Gegenteil: Seine Unbeholfenheit beförderte seine Popularität. Die Menschen spürten: Da ist einer, der nicht mehr sein will, als er ist.

Diesem Motto ist er 1979 untreu geworden, als er Franz Beckenbauer in die US-Operettenliga folgte, und womöglich war das sein Verhängnis, der Türöffner in seine stürmische und tragische zweite Lebenshälfte. Im Grunde war Müller der Enge der bayerischen Provinz nie entwachsen, auch in München blieb er immer der Nördlinger. „Eigentlich wollte ich nicht von zu Hause weg“, sagte er. Doch dann verkrachte er sich mit dem Bayern-Trainer Pal Csernai und trat die Flucht an. In Fort Lauderdale traf er bei den Strikers auf George Best, der ihn mit den Worten begrüßte: „Wir werden schon sehen, wer hier der Star ist.“ Acht Wochen später war die Skandalnudel aus Nordirland entlassen, Müller aber schoss weiter Tore. „Wir hatten nur lange Ochsen vorne drin“, sagte er über die Briten im Team, „die sich nur hoch anspielen ließen. Da habe ich gesagt: Spielt’s flach, und schon habe ich wieder meine Buden gemacht.“ Vier Jahre lang, in denen er eher mühsam ein Steakhaus namens Ambry betrieb.

Nach seiner US-Stippvisite kroch die Einsamkeit in sein Leben – und der Alkohol

Später, zurück in München, kroch die Einsamkeit in sein Leben. Als Ruhm und Karriere vorbei waren, fühlte er sich „irgendwie verloren“. Da begann er zu trinken. Es war die erste Tragödie in seinem Leben. Die zweite, schwerwiegendere durchlebt er jetzt.

Seine Frau Uschi war ihm damals eine Stütze, sie umsorgt ihn auch heute, bringt Licht in die Düsternis seines Lebens. „Tag und Nacht“, wie Uli Hoeneß weiß. Müller hatte seine Uschi kennengelernt; als er sie in einem Café von einem süßen Stückchen abbeißen ließ, da biss sie gleich lebenslang an. Sie war und ist sein größtes Glück. In guten und erst recht in schlechten Zeiten.