Georgette Tsinguirides im Ballettsaal. Foto: dpa

Mit sieben Jahren kam Georgette Tsinguirides als Ballettschülerin in die Obhut von Hella Heim, seit 80 Jahren geht sie ein und aus im Stuttgarter Opernhaus. Als Choreologin ist die Deutschgriechin bis heute das Gedächtnis des Stuttgarter Balletts. An diesem Samstag feiert sie mit der Kompanie ihr 70. Dienstjubiläum.

Stuttgart - Frau Tsinguirides, wie bleibt man im Alter so fit wie Sie? Verraten Sie unseren Lesern Ihr Geheimrezept?
Werde Tänzer! Tänzer altern nie. Wir lernen in unserem Beruf, dass wir einfach weitergehen müssen. Wir sind anders, wir können mehr wegstecken als normale Menschen. Und wir nehmen uns selbst nicht so wichtig. Wichtig ist die Sache und die Zusammenarbeit, dem ordnet sich alles unter.
Sie stehen auch mit 87 jeden Tag im Ballettsaal. Es scheint, dass sich in Ihnen schwäbische und griechische Tugenden besonders glücklich paaren. Haben Sie keine innere Stimme, die manchmal sagt: Georgette, heute bleibst du liegen?
Nein, die Mischung ist tatsächlich gar nicht schlecht. Griechen sind nicht nur Kaffeehaushocker, sondern klug und ordentlich. Das ist nah am Schwäbischen, hat aber eine entspannte Seite. Und die Disziplin ist halt das, was man als Tänzer im Körper hat. Seit ich sieben Jahre alt bin, bin ich da hineingewachsen – hier nebenan beim Kinderballett mit Hella Heim. Seit 80 Jahren komme ich ins Opernhaus.
Seit genau 70 Jahren sind Sie hier am Staatstheater unter Vertrag – erst als Elevin, heute als Choreologin und Ballettmeisterin. Bei der deutschen Gesetzeswut: Geht das überhaupt? Wird man nicht mit 65 zwangsverrentet?
Mein 65. Geburtstag fiel in Marcia Haydées Zeit. Als ich sie darauf angesprochen habe, dass ich ins Rentenalter komme, sagte sie nur: Ja, und? Für sie hat Alter keine Bedeutung gespielt, und sie hätte mich auch nie weggelassen. Es war viel zu viel zu tun.
Der Dezember ist ein wichtiger Monat in Ihrer Karriere: Am 1. Dezember 1945 unterschrieben Sie den ersten Arbeitsvertrag, am 4. Dezember 1938 hatten Sie als Elfjährige ihr „Bühnendebüt“ . . .
Stimmt, das war in Gerd von Bassewitz’ Schauspielinszenierung „Peterchens Mondfahrt“. Ich weiß noch, als wär’s heute, wie wir Kinder vom Chor ganz oben auf Leitern saßen und als Engelchen Sterne geputzt und gesungen haben. Ich wollte das nicht missen, am Theater groß geworden zu sein. Daraus erwächst eine besondere Hochachtung. Einmal durfte ich den Schleier der Sopranistin Trude Eipperle tragen, das war unglaublich! Oder als Kind auf der Festwiese der „Meistersinger“ gesessen zu haben. Ich habe in der Oper gelebt! Heute kommen die Tänzer aus Ballettschulen und haben nicht mehr diese enge Verbindung.
Das Kleine Haus, wo Sie Ihr „Bühnendebüt“ gaben, wurde im Krieg zerstört . . .
Ja, das war furchtbar. Ich habe viele Auszeichnungen bekommen, aber die schönste von allen war zu meinem 80. Geburtstag die Ehrenmitgliedschaft der Staatstheater. Ich hänge sehr an diesem Haus.
Sie haben Ihre Eltern früh verloren. War das Ballett für Sie auch Familienersatz?
Meine Mutter starb, als ich vier war. Mein Vater hat den ersten Radiosender in Griechenland aufgebaut, das war seine Lebensaufgabe. Meine Großmutter, die mich und meine Schwester aufgezogen hat, war sehr bürgerlich, ins Ballett schickte man seine Kinder eigentlich nicht. Ich bin ihr dankbar, dass sie uns Klavierstunden nehmen ließ. Ohne Noten lesen zu könne, hätte ich die Ausbildung zur Choreologin nie geschafft. Ich bin leider kinderlos geblieben, da wurde das Stuttgarter Ballett zu meinem Mittelpunkt. Die Atmosphäre hier ist eine besondere, die Tänzer gehen nett und aufmerksam miteinander um. Es ist tatsächlich wie eine Familie, und ich bin sehr stolz darauf, dass wir das bis jetzt so durchgehalten haben.
Sie sind mitten in Stuttgart aufgewachsen. Wie empfinden Sie die vielen Veränderungen in der Stadt?
Schwierig zu sagen. Es ist auf alle Fälle nicht mehr so gemütlich wie früher. Wenn ich heute den Marktplatz sehe, der vor dem Krieg eine schöne, historische Atmosphäre hatte, dann tut mir dieser Verlust immer noch weh. Vieles hätte man wieder aufbauen können, wollte es aber modern haben. So ist zu viel Beton verbaut worden und manches zu nüchtern geraten. Aber früher war alles auch geistig enger, Ausländer gab es in meiner Anfangszeit höchstens als Gäste in der Kompanie. Heute leben in der Stadt Menschen aus vielen Nationen – zum Glück! Diese Offenheit, die sich auch im Ensemble des Stuttgarter Balletts spiegelt, sorgt für neue Ebenen.
Sie waren Tänzerin unter Robert Mayer, Nicholas Beriozoff und zuletzt unter John Cranko, dann dessen Assistentin und Ballettmeisterin. Hat sich in all den Jahren viel geändert am Anspruch an die Tänzer?
Sie müssen heute mehr leisten und wissen, dass sie nicht unvorbereitet in Proben kommen können. Auch in der klassischen Technik wird mehr von ihnen gefordert. Als ich anfing zu tanzen, waren dafür die Umstände schwieriger, zum Beispiel gab es wenig Spitzenschuhe, und wir mussten die alten ständig reparieren und mit Schellack ausgießen.
Wenn man Marcia Haydée nach den Höhepunkten ihrer Karriere fragt, sagt sie: Das Beste kommt erst noch. Wie geht es Ihnen?
Jeder Tag war und ist ein Höhepunkt. Wenn man im Ballettsaal arbeitet, ist es ein Wunder. Wenn man auf die Bühne geht, ist es auch eines. Natürlich ist es toll, die Hauptrolle in „Schwanensee“ zu tanzen. Wichtig war mir aber immer auch, einen Partner zu haben, mit dem ich mich gut verstand. Ein Höhepunkt war die erste Einstudierung, nachdem mich John Cranko nach London geschickt hatte, um die Benesh-Notation zu lernen. Ich ging in den Ballettsaal und dachte: Schaffst du das?
Sie sagen, dass Sie mit Benesh-Ballettschrift sogar ein Fußballmatch notieren und nachspielen lassen könnten. Wie aufwendig ist so eine Aufzeichnung?
Eine Variation grob zu skizzieren dauert zwei bis drei Stunden. Dann beginnt die Ausarbeitung, die mit dem Klavierauszug konform sein muss, daran sitzt man ein paar Tage. Ich habe alle Ballette Crankos notiert, damals hat mir eine junge Engländerin geholfen, sie ins Reine zu schreiben. Heute studiere ich vor allem ein. Besonders wichtig ist mir dabei zu vermitteln, was zwischen den Zeilen passiert. Ich nehme oft Videos mit, aber die zeige ich erst, wenn alles gestellt ist. Tänzer müssen eine Rolle für sich entwickeln, nicht optisch etwas übernehmen, sonst kopieren sie unbewusst.
Junge Tänzer werden immer nach ihren Traumrollen gefragt. Haben Sie noch Wünsche?
Ich will noch etwas vollbringen, das nichts mit Ballett zu tun hat, sondern mit meiner Schwester, die bei Fritz von Graevenitz Kunst studiert hatte. Sie hat unsere Großmutter am Ende aufopferungsvoll gepflegt und musste ihren Beruf aufgeben. Ich würde gerne ein Buch machen mit ihren Zeichnungen und Aquarellen. Da sind schöne, wertvolle Ansichten von Städten und Dörfern darunter, die heute ja ganz anders aussehen.