89 Jahre alt ist Georgette Tsinguirides aus Stuttgart-Riedenberg. Dabei wirkt sie immer noch jugendlich. Foto: Caroline Holowiecki

Georgette Tsinguirides aus Stuttgart-Riedenberg ist an den Württembergischen Staatstheatern eine lebende Legende. Mit bald 90 Jahren trainiert sie dort täglich ihre Kompagnie. Am 4. Juli erzählt sie bei der evangelischen Kirchengemeinde von ihrer Karriere.

Riedenberg - Die große Georgette Tsinguiridesist überraschend klein. Die energiegeladene Frau mit dem schwarzen Lockenkopf ist dennoch schwer zu übersehen. Die Arme sind drahtig, der Körper unter dem orangefarbenen Body zierlich und jugendlich geformt. Doch das Gesicht, das erzählt von einem langen Leben.

Im nächsten Jahr wird Georgette Tsinguirides 90. Ein Alter, in dem die meisten es sich auf dem Bänkle im Gärtle gemütlich machen. Doch nicht sie. Wie eine Biene schwirrt sie durch ihr Büro. Setzt sich, springt wieder auf, um eine Notiz auf Englisch zu lesen, um etwas aus dem Kühlschrank zu holen. Etwas unruhig wirkt sie. „Wir sind mitten in den Proben für den neuen Cranko-Abend“, sagt sie.

John Cranko hat sie zu seiner Assistentin gemacht

Der unvergessene John Cranko und Georgette Tsinguirides. Der ehemalige Direktor des Stuttgarter Balletts machte die Deutschgriechin in den 60ern zu seiner Assistentin und schickte sie nach London, um sich am Benesh-Institut zur Choreologin ausbilden zu lassen. Das heißt, dass sie Bewegungsabläufe von Choreografien mit Symbolen wie in einer Partitur niederschreibt. Georgette Tsinguirides öffnet einen Schrank, der von oben bis unten mit orangefarbenen großen Ordnern voll ist. Sämtliche Choreografien ihres früheren Chefs und Lehrers hat sie dokumentiert und sein Werk bis heute unzähligen Tänzern vermittelt. „Ich habe versucht, viel weiterzugeben, damit die nächste Generation von Ballettmeistern viel weitergeben kann.“

Seit 1965 lebt sie in Stuttgart-Riedenberg

Wie innig die Beziehung zum 1973 verstorbenen Cranko war, spürt man im Büro. Etliche Porträts zieren die Wände. Auf vielen Fotos ist das Duo gemeinsam zu sehen. Es ist ein Ort der Erinnerung. Zeitungsartikel, Stofftiere und andere Geschenke, Briefe, Kostüme, ein kleiner Schminktisch, ein Klappbett, ein Adventskalender mit Katzen, weil sie Katzen so liebt, da sie so individuell sind. Ein Hauch von Parfum hängt in der Luft. „Das Zimmer ist einmalig“, sagt sie und schaut sich lächelnd um. Seit mehr als 45 Jahren ist dies ihr Reich. „Es ist ein Chaos, aber ich liebe es.“

In Riedenberg lebt sie seit 1965, seit dem Tod des Mannes 1996 und der Schwester 2011 allein. Daheim im Reihenhaus ist sie jedoch selten. „Die Luft ist dort so gut, von meinem Dachgeschoss sehe ich die Alb. Aber ich hatte immer wenig Zeit.“ Ihr eigentliches Zuhause ist das Opernhaus. Schon im Alter von sieben Jahren begann dort ihre Ballettausbildung, ihren ersten Arbeitsvertrag bei den Staatstheatern unterschrieb sie Ende 1945 als Chortänzerin-Anwärterin. Das Dokument hängt gerahmt an der Wand, „da musste meine Großmutter noch unterschreiben. Ich war erst 17“, erzählt sie. In den 50ern avancierte sie zur Solistin. Und bis heute ist sie dem Haus treu geblieben. 2015 verlieh ihr der Ministerpräsident Winfried Kretschmann zum 70-Jahr-Dienstjubiläum bei den Württembergischen Staatstheatern die Staufermedaille in Gold. Bis heute kommt sie täglich um 9.30 Uhr und verlässt ihren Arbeitsplatz gegen 18.30 Uhr. Wenn Vorstellungen sind, wird es ungleich später. Sieben Tage die Woche. Das Haus und die Ballettmeisterin sind verwachsen. „Ich kenne jede Ecke und alle Schleichwege.“

„Man darf sich nicht so ernst nehmen“

Wenn die kleine, große Georgette Tsinguirides durch die Flure geht und ihre Tanzschuhe klackern, spürt man so was wie Ehrfurcht. Blutjunge Ballerinas in Tutus gehen zur Seite, lächeln ihr entgegen, eine legt ihr für einen kurzen Moment eine Hand auf die Schulter. „Meine Kompagnie hängt sehr an mir“, sagt sie Lehrerin, dann fügt sie aber an: „Man darf sich aber nicht so ernst nehmen. Viele Menschen nehmen sich viel zu wichtig.“ In ihren Trainings werde auch viel gelacht, es müsse schließlich Spaß machen, „but when it counts, it counts“. Disziplin hat Georgette Tsinguirides früh gelernt. Zipperlein fühle sie mit 89 durchaus, aber Tänzer können beißen wie keine anderen. Wenn der Vorhang aufgeht, rückt alles andere in den Hintergrund. „Das verliert man nicht“, sagt sie.

Viele Anfragen aus der ganzen Welt habe sie in ihrer Karriere gehabt. Doch auch nach Auslandsaufenthalten ist sie stets heimgekehrt. „Durch das, dass ich hier geboren bin und hier auch schwere Zeiten erlebt habe, hänge ich an Stuttgart.“ Die Kriegsjahre und die Bomben haben sich eingeprägt. „Jeden Tag habe ich geschaut, ob das Theater noch steht. Das war ganz wichtig.“ Georgette Tsinguirides hat viele Auszeichnungenentgegengenommen, am meisten bedeutet ihr die Ehrenmitgliedschaft der Staatstheater.

Bald steht jedoch eine Zäsur an. Denn am 8. Juli ist Georgette Tsinguirides’ Verabschiedung – beim Public Viewing von „Don Quijote“ im Oberen Schlossgarten. Nach knapp 72 Jahren am Staatstheater soll ihre aktive Zeit vorbei sein. Dass sie ihr Büro tatsächlich räumt – schwer vorstellbar. Und dann? Georgette Tsiguirides legt ein kleines Lächeln auf. „Dann sehen wir weiter.“

Vortrag im Gemeindezentrum

Georgette Tsinguirides ist am Dienstag, 4. Juli bei der „Begegnung am Nachmittag“ der evangelischen Kirchengemeinde Riedenberg zu Gast. Beginn ist um 14.30 Uhr im Gemeindezentrum an der Schemppstraße 46. Der Vortrag ist kostenfrei.