Das Dreigestirn einer Koalition, die nicht zu sich findet: Angela Merkel, Horst Seehofer und Olaf Scholz Foto: AP

Die Kanzlerin setzt der Negativstimmung ihre Vorhaben entgegen. Sie dringt damit aber nicht recht durch, weil wieder die AfD und die Auseinandersetzung mit ihr den Tag prägen.

Berlin - Bestens gelaunt hat Angela Merkel an diesem für sie so wichtigen Tag das Reichstagsgebäude betreten. Es gibt ein beherztes „Guten Morgen“ für die Sicherheitsleute an den Röntgengeräten, forschen Schrittes geht es dann, mit Regierungssprecher Steffen Seibert und Kanzleramtsminister Helge Braun im Schlepptau, ins Plenum, wo die meisten Abgeordneten schon auf die Bundeskanzlerin warten. Ihr eigener Etatposten wird beraten, traditionell Anlass, um über das große Ganze und den Zustand von Land und Regierung zu streiten. Von der guten Laune der Kanzlerin jedenfalls wird am Ende der Generaldebatte nicht mehr viel zu sehen sein.

Ihre Rede kommt zu einem Zeitpunkt, da es knirscht und kracht im Gebälk dieser Republik. Chemnitz und Köthen heißen die Orte, die zu Symbolen einer gesellschaftlichen Spaltung geworden sind. Hier ist die berechtigte Empörung über Gewaltverbrechen von Asylbewerbern, die eigentlich schon hätten das Land verlassen müssen. Dort ist die Hetze, die diesen Zorn pauschal auf alle Flüchtlinge umleitet und unverhohlen den Umsturz des „Systems Merkel“ propagiert. Im Bundestag sitzen Abgeordnete, die „das politische System im Sinne des Parteiensystems“ ablösen wollen, wie AfD-Fraktionschef Alexander Gauland in einem Interview offenbart hat.

Von der Waffenruhe ist nichts mehr übrig

Inmitten der aufgeheizten Stimmung regiert in Berlin eine Koalition, die einfach nicht zu sich selbst findet. Vor der Sommerpause, nach nur 100 Tagen im Amt, stand sie bereits kurz vor dem Aus. Und von der Waffenruhe der Urlaubswochen ist schon kaum mehr etwas übrig. Ohne dass ihm ernsthaft jemand widersprechen könnte, wird Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch in der Debatte das anhaltende „Regierungschaos“ beklagen: „Im Kern machen Sie so weiter wie vor der Sommerpause.“ Die gravierenden Meinungsverschiedenheiten bei den Themen Syrien und Mieterschutz gehören da fast noch zum demokratischen Prozedere und dienen womöglich der Erkennbarkeit der Parteien in der Koalition. SPD-Chefin Andrea Nahles etwa wird ihre Rentenideen vorstellen, die mit denen der Union nichts gemein haben.

Es dauert dann keine zwei Minuten, bis der Eröffnungsredner Gauland den Finger in die Wunde legen darf und die Worte von Bundesinnenminister und CSU-Chef Horst Seehofer aufgreift, wonach die Migration die Mutter aller Probleme im Land sei. Die Koalition liefert die Vorlagen für die hysterischen Debatten, die ihre Politik in den Hintergrund treten lassen, selbst.

Das Asylthema nervt die CDU

Intern ist die Stimmung bescheiden. Vor allem die ewige Wiedervorlage des Asylthemas nervt CDU-Abgeordnete gewaltig. „Wir haben die Abschiebungen immer noch nicht im Griff“, räumt die Stuttgarterin Karin Maag ein, weil es ja da auch kein Drumherumreden gibt: „Da muss nun aber auch der Innenminister einmal damit anfangen, die Probleme zu lösen statt sie nur zu beschreiben.” Hinter vorgehaltener Hand klagt eine Parteifreundin gar, die Koalition sei „außer Kontrolle“ und „nicht mehr zusammenzuhalten“, da die Vorstellungen, wie der Krise draußen im Land zu begegnen sei, zu weit auseinander lägen.

Angela Merkel muss, als sie ans Rednerpult tritt, all dem etwas entgegenzusetzen versuchen. Zuerst stellt die Kanzlerin klar, dass sich ihre Kritik an den Vorfällen in Chemnitz nicht gegen die Chemnitzer richtet, die wütend sind wegen der Tötung eines Mitbürgers: „Solche Taten machen mich betroffen.“ Sie könne „jeden verstehen, der empört ist“, weil wieder abgelehnte Asylbewerber die Tatverdächtigen seien. „Eine Entschuldigung für menschenverachtende Demonstration“ dürfe das aber nicht sein, so die Regierungschefin: „Eine begriffliche Auseinandersetzungen, ob das nun Hetze oder Hetzjagden waren, hilft uns nicht weiter.“ Merkel zitiert dann, vielleicht auch für ihren Innenminister, den ersten Grundgesetzartikel, der „für jeden Menschen“ gelte: „Wenn wir da einen Konsens haben, können wir über alle anderen Probleme reden.“

Die Mutter aller Projekte

Die Kanzlerin ist an diesem Vormittag im Bundestag lieber Mutter aller Projekte. In der zweiten Hälfte ihrer Rede zählt sie all die schönen Dinge auf, die ihre Koalition für die Menschen im Land auf den Weg bringt – und die Negativstimmung trotz glänzender Wirtschaftszahlen einleiten sollen: Tausende neue Stellen bei der Polizei, eine milliardenschwere Entlastung bei Steuern und Abgaben, 1,5 Millionen neue Wohnungen gegen den Mietwucher, ein einheitliches Bürgerportal im Netz, mehr Pflegekräfte, ein Zuwanderungsgesetz gegen Fachkräftemangel in den Betrieben, mehr Hilfe zur Selbsthilfe für Afrika, damit weniger Menschen sich nach Europa aufmachen.

Auffällig ist, wie spärlich der Applaus in den Reihen der Koalition ausfällt. Wohl versucht Angela Merkel ihre Politik noch einmal besser zu erklären. Aber sie kommt ohne jede Neuigkeit oder Überraschung aus. Die bloße Aufzählung des im bereits im Koalitionsvertrag Beschlossenen reißt niemanden von den Stühlen.

Selbst die Opposition jenseits der AfD scheint die Regierung fast anzuflehen, etwas zu wagen, um den gefühlten Stillstand hinter sich zu lassen. „Es braucht jetzt große Antworten“, sagt Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt, eigentlich gut mit Merkel befreundet: „Es reicht nicht mehr, hier alle paar Monate einen Rechenschaftsbericht abzuliefern.“ Und ihr FDP-Amtskollege Christian Lindner mahnt gar eine politische Offensive aller staatstragenden Parteien bei der Migration an, um das Land aus seiner Hysteriespirale zu lösen.

Suche nach dem Aufbruch

Die AfD hat daran das geringste Interesse. Sie versucht, Gewalttaten von Flüchtlingen Merkel anzulasten und fragt via Gauland immer wieder: „Wer gefährdet den Frieden in diesem Land?“ In einer emotionalen Gegenrede wünscht der frühere SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz die Alternative auf den „Misthaufen der Geschichte“. Und sein Fraktionskollege Johannes Kahrs treibt die AfD-Abgeordneten mit seinen Worten gar aus dem Saal: „Hass macht hässlich – schauen Sie mal in den Spiegel.“

Woher in dieser Atmosphäre der im Koalitionsvertrag versprochene Aufbruch herkommen soll, fragt sich nicht nur die stellvertretende Unionsfraktionschefin Katja Leikert: „Die Debatten im Bundestag sind zunehmend vergiftet – für uns als Regierungspartei wird es abseits der Migrationspolitik zunehmend schwierig, mit anderen Themen, die allesamt essenziell für die Zukunft unseres Landes sind, zu den Menschen durchzudringen.“