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Kann man sich vom eigenen Acker tatsächlich voll versorgen? Wir haben nachgefragt.

Stuttgart - Je schlechter die Nachrichten über die Qualität von Lebensmitteln, desto besser geht es den Schrebergärten. Getrieben vom Wunsch nach Freiheit, Gesundheit und Unabhängigkeit zieht es die Menschen wieder auf den eigenen Acker. Aber werden Laien davon wirklich satt, vor allem im Winter?

"Willkommen in meinem Reich" - freundlich grüßt der Gartenzwerg am Eingang zu Karl Sauers Schrebergarten von einem dünnen Blatt Papier. Mehr Platz für Nippes gibt es hier nicht. Schließlich leben Karl Sauer und seine Frau von dem, was sie auf 200 Quadratmetern in der Siedlung in Stuttgart-Zuffenhausen anbauen. Und das seit 30 Jahren.

Anfang März sieht das nach Diätkost aus. Ein paar Feldsalat-Röschen quälen sich durch die matschige Erde ans Tageslicht. Auch zwei grüne Inseln aus Lauch und Petersilie haben Schnee und Eis widerstanden. Sonst gedeihen nur braune Ackerschollen. Trotzdem sieht Karl Sauer, 68, wohlgenährt aus. Der Rentner schwärmt vom Mittagessen: "Bohnen und danach selbst gemachtes Eis mit Erdbeeren." Erdbeeren? Die sucht man im Winter selbst im Supermarkt vergebens. Nicht aber in Sauers Keller.

Bohnen, Brokkoli, Erbsen - alles ist da

In Einweckgläsern stehen dort Kirschen, Rote Grütze, Essiggurken, Tomatensoße und eingelegte Paprika hübsch aufgereiht im Regal. In Kisten lagern Äpfel. Daneben, im Gefrierschrank, gibt es beutelweise Bohnen, Brokkoli, Kohlrabi und Erdbeeren. "Wir kaufen auch im Winter nur Bananen, Orangen oder mal einen Salat frisch - alles andere ist ja da", sagt Sauer.

So einfach, wie das mit dem "Da"-Sein klingt, ist die Selbstversorgung dann aber nicht. In seinem selbst gezimmerten Schrebergarten-Häuschen breitet Karl Sauer akkurat gezeichnete Pflanzpläne der letzten Jahre aus. Wo 2006 noch Bohnen wuchsen, sind im Jahr darauf Karotten eingetragen. Daneben mal Zucchini, mal Rucola - denn jedes Gemüse entzieht dem Boden andere Nährstoffe. Außerdem wird jedes Feld im Beet mehrmals im Jahr bepflanzt, sonst wären Keller und Teller inzwischen leer. "So ein Garten macht schon Arbeit, und das ständig", sagt Sauer. Er sagt aber auch: "Die Erholung im Garten fängt für mich mit der Arbeit an."

Freunde schütteln gern mal den Kopf über Sauer, weil er jeden Tag mindestens eine halbe Stunde in seinem Garten werkelt. Pflanzpläne zeichnet, Bäume schneidet, Kompost und Beete umgräbt. Das Frühbeet bepflanzt, sät, gießt. Unkraut zupft, erntet. Und über seine Frau, die im Sommer an manchen Tagen nicht mehr aus der Küche herauskommt, weil die Ernte in die Einmachgläser muss, bevor sie schimmlig wird. Wozu tut ihr euch das an, fragen die Freunde dann. Gibt es doch alles im Supermarkt. Und billiger ist es auch.

"Wir sollten unser Essen wieder selbst erzeugen"

Geld spart ein Selbstversorger nicht unbedingt. Für seinen knapp 500 Quadratmeter großen Garten gibt Karl Sauer für Pacht, Mitgliedsbeitrag, Wasser und Saatgut etwa 300 Euro im Jahr aus. Wenn sich Schädlinge über Karotten, Lauch oder Zwiebeln hermachen, "legen wir beim Gemüse sicher auch mal drauf", räumt Sauer ein.

Aber ums Geld geht es weder ihm noch den vielen vor allem jungen Leuten, die seit einigen Jahren in die Kleingartenanlagen drängen. Die einst als spießig belächelten Vorgaben wie "mindestens je ein Drittel Obst und Gemüse anbauen" schrecken sie nicht. Im Gegenteil. "Nach all den Lebensmittelskandalen wollen die Menschen wieder sehen, woher ihr Essen kommt", sagt Karl Sauer. Hält der Vorsitzende der Gartenfreunde Stuttgart einen Vortrag, erzählt er selbst gern vom "mentalen Erlebnis", das ein Selbstversorger verspürt, wenn das eigene Gemüse auf dem Teller liegt.

Joachim Westenhöfer gefallen solche Sätze. Denn sie passen zu den Überlegungen, die der Professor für Ernährungspsychologie an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Hamburg über die Sehnsucht nach mehr Selbstversorgung angestellt hat. "Wir haben eine sehr emotionale Beziehung zu unserem Essen, für die Nähe und Vertrauen sehr wichtig sind", sagt Westenhöfer. Die industrielle Herstellung von Lebensmitteln aber baue eine immer größere Distanz zwischen der Kartoffel auf dem Acker und dem fertigen Püree im Supermarkt auf. Enthüllt ein Lebensmittelskandal dann noch, dass der Brei gar nicht aus Kartoffeln besteht, leidet das Vertrauen. "Um es wiederherzustellen, wollen wir unser Essen wieder selbst erzeugen."

Experimente mit Honigmelonen

In Zeiten von Lebensmittel-, Wirtschaftsmarkt- und Finanzkrisen ist das Vertrauen mancher Menschen aber so weit erschüttert, dass sie mehr wollen als nur ein bisschen eigenes Obst und Gemüse. In zahlreichen Internetforen erzählen sie, endlich Arbeitsplatz, Altersvorsorge und Stromanbieter gekündigt zu haben, um als Rundumselbstversorger aufs Land zu ziehen. Dort bereiten sie sich auf den finalen Finanzcrash vor, auf ein Leben ohne Geld, im ökonomischen Jenseits. "Neben eigenem Wasser haben wir auch einen Kiefernwald zum Heizen. Strom erzeugen wir über ein Windrad und eine Fotovoltaikanlage. Wir leben jetzt vollkommen unabhängig", erzählt ein Teilnehmer. Ein anderer fühlt sich "frei wie John Seymour", seit er ein eigenes Grundstück mit Hühnern, Enten und Schweinen hat.

Seymour, der britische Agrarwissenschaftler, lebte schon in den 70er Jahren mit seiner Familie autark auf einer abgelegenen Farm. "Wenn morgen die übrige Welt in die Luft gehen sollte, könnten wir hier glücklich weiterleben und würden keinen Unterschied merken", schrieb er damals in seinem "Großen Buch vom Leben auf dem Land". 40 Jahre später liegt eine Neuauflage des Klassikers im Regal, flankiert von Titeln wie "Handbuch der Selbstversorgung - Überleben in der Krise" aus dem Rottenburger Kopp-Verlag.

Schrebergärtner Karl Sauer wird sich keines dieser Werke kaufen. Er mag keine Bücher, die ihm erklären, wie er sein kleines Reich in Stuttgart-Zuffenhausen zu gestalten hat. Er lernt lieber durch Ausprobieren. Und wenn seine "exotischen Spielereien" mit Honigmelonen und Kakis mal nicht wachsen, geht er eben doch zum Supermarkt statt in den Schrebergarten.