Rainer Müller hat im Ruhestand seine Berufung entdeckt: Demokratie von unten soll das Wirtschaftssystem umsteuern. Foto: Peter-Michael Petsch

Rainer Müller setzt sich nach einem vielfältigen Berufsleben für die Idee der Gemeinwohl-Ökonomie ein.

Stuttgart - Ein Beruf fürs ganze Leben, das gilt heute als so überholt wie das Reisen mit der Postkutsche. Wer bestehen wolle im Arbeitsleben, müsse flexibel sein, kreativ, mobil und bereit zum Wechsel, predigen die Zukunftsforscher. Rainer Müller kann darüber nur lächeln. Denn der Wandel war das Beständigste in der beruflichen Biografie des heute 73-Jährigen. Er will gestalten und verändern. Kritisch und kreativ.

Seit jeher schon, denn mit dieser Motivation kam er bereits vor mehr als drei Jahrzehnten auf die Redaktion zu, um seiner Kritik an den lieblos vernachlässigten Schul- und Pausenhöfen ein öffentliches Forum zu verschaffen: „Hier verkommen die Schüler doch seelisch“, empörte er sich seinerzeit. Als professioneller Farbberater appellierte er an Eltern, Schüler und Lehrer, selbst gestalterisch tätig zu werden. Mittlerweile hat sich diese Erkenntnis durchgesetzt.

Genau dafür, für eine Veränderung des Bewusstseins, macht er sich auch jetzt wieder stark, wie wir bei einer zufälligen zweiten Begegnung nach einem halben Menschenleben erfahren. Mit dem gleichen Engagement für öffentliche Belange, der gleichen Eindringlichkeit und der Freiheit, unkonventionell zu denken. Jetzt geht es um nichts weniger als ein Umdenken über das wirtschaftliche System.

Gemeinwohl und Kooperation statt Gewinnstreben und Konkurrenz mit den Auswüchsen von Maßlosigkeit und Gier

Das Thema trifft den Nerv der Zeit. Kaum reichte der Saal im Rotebühlzentrum aus, als Christian Felber hier die Idee der Gemeinwohl-Ökonomie vorgestellte. Der Österreicher (40), Universitätslektor, Autor von Sachbüchern über Wirtschaftsthemen, Globalisierungsgegner und Mitbegründer von Attac, hat dieses „Wirtschaftsmodell der Zukunft“ entwickelt. Ihr wichtigstes Prinzip: Gemeinwohl und Kooperation statt Gewinnstreben und Konkurrenz mit den Auswüchsen von Maßlosigkeit und Gier.

Der Stein, den er ins Wasser geworfen hat, zieht auch in Stuttgart Kreise: „Wir haben 60 Rückmeldungen von 150 Zuhörern bekommen, darunter sind auch 20 Unternehmer“, versichert Müller, der am Aufbau der Gruppe Region Stuttgart maßgeblich beteiligt ist. Das Thema passe genau in seine aktuelle Lebenssituation: „Jetzt sind die sozialen und politischen Interessen dran“, hatte Müller beschlossen, als er die letzte Etappe seines reichen Berufslebens beendete.

Mit der Absicht, Innenarchitektur zu studieren, absolvierte der gebürtige Stuttgarter eine Ausbildung zum Schreiner. Aus der Innenarchitektur wurde dann doch nichts, vom Handwerksberuf riet ihm sein Arbeitgeber Max Fürst, Tischler und Romanautor („Gefilte Fisch“), ab: „Du bist kein Schreiner, du bist ein Intellektueller.“ Müller entschied sich für den Textilhandel, ging noch mal in die Lehre, leitete lange Jahre die Textilabteilung eines renommierten Stuttgarter Einrichtungshauses und landete nach einer Spezialisierung zum Farbgestalter mit eigenem Büro schließlich im Architekturbüro Heinle und Wischer. „Mit 39 habe ich mich gefragt, ob ich das weitermachen will“, erzählt er. Er wollte nicht, sondern ließ sich zum Waldorflehrer ausbilden und unterrichtete 25 Jahre als Werklehrer an der Michael-Bauer-Schule. Ganz am Schluss machte er einen Leinenhandel auf.

„Ich glaube, dass derzeit ein historisches Fenster für Veränderung offen ist“

Die Gesetze des Handels sind ihm also nicht fremd, Blauäugigkeit kann man ihm nicht vorwerfen. „Die Menschen machen sich doch heute keine Illusionen mehr über den Kapitalismus“, sagt er. Bei diesen Auswüchsen, vor allem der Finanzwirtschaft, sei das auch kein Wunder. Die Idee, „das Wirtschaftssystem evolutionär umzusteuern“, sei faszinierend. Utopie oder Vision? „Eine reale Utopie“, wagt Müller eine Prognose: „Ich glaube, dass derzeit ein historisches Fenster für Veränderung offen ist.“

Müller räumt ein, dass das neue System zu einem „Spagat zwischen wohlbegründetem Eigeninteresse an Gewinn und Wohlstand einerseits und Verzicht zugunsten des Gemeinwohls andererseits führt: Es gibt da bittere Pillen zu schlucken“. Zur Gemeinwohl-Ökonomie gehört nicht nur eine deutliche Reduzierung der maximalen Einkommen und Vermögen. Auch Otto Normalverdiener soll sich mit 1250 Euro Minimum bei 33 Wochenstunden Arbeitszeit begnügen und die freie Zeit fürs Allgemeinwohl nutzen.

Ist das nicht zu idealistisch gedacht? Ist Egoismus nicht stärker als Altruismus? Er baue auf „soziale Urtriebe“, sagt Müller: „Es ist doch befriedigend, für andere etwas in Gang zu setzen und zu bewegen“, sagt er. Denn er glaubt an die Kraft der Demokratie von unten. Dafür arbeitet er jetzt.