Eltern behinderter Kinder sollen künftig wählen können, ob ihr Kind eine Sonder- oder eine Regelschule besucht - wie bereits in Bayern. Im Kreis Biberach erproben Schulen derzeit, was später in Baden-Württemberg gelten wird. Foto: dpa

Ein Besuch in der Modellregion Biberach: Kleine Klassen sind eine Voraussetzung für Erfolg.

Biberach - Eltern behinderter Kinder sollen künftig wählen können, ob ihr Kind eine Sonder- oder eine Regelschule besucht. Im Kreis Biberach erproben Schulen derzeit, was später landesweit gelten wird.

Seit dem 30. Mai besucht Markus (Name von der Redaktion geändert) die Bischof-Ulrich-Schule in Obersulmetingen. Dieser Tag sei ein Wendepunkt im Leben der Familie, erzählt seine Mutter. "Seitdem hat Markus Riesenfortschritte gemacht, und er freut sich jeden Tag auf die Schule." Anders als in den vier Schulen, die er davor besucht hat, ist der körperbehinderte Fünftklässler in seiner jetzigen Klasse nicht das einzige Kind mit einem Handicap. Auch fünf Förderschüler gehören zu der 16-köpfigen Klasse an der Werkrealschule.

Gemeinsames Lernen ist "Herzensaufgabe"

Seit sechs Jahren wird an der Grund- und Werkrealschule im Laupheimer Stadtteil das Thema Inklusion groß geschrieben. Schulleiterin Stephanie Krueger und ihre Kolleginnen sehen das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderungen als "Herzensaufgabe", und sie sind überzeugt, dass das allen Beteiligten zugute kommt.

Die Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf - wie es in der Fachsprache heißt - werden nicht von ihren Altersgenossen getrennt und können eine Schule an ihrem Wohnort oder in der Nähe besuchen. Die Kinder der Regelschule profitieren davon, dass häufig eine Hauptschullehrerin und eine Sonderpädagogin gleichzeitig in der Klasse sind und mehr Zeit für alle Schüler haben. Zudem lernten die Kinder, sich gegenseitig zu helfen und aufeinander Rücksicht zu nehmen, sagt eine Mutter. "Meine Tochter am Gymnasium kennt dagegen vor allem das Leistungsdenken."

Dass behinderte Kinder allgemeinbildende Schulen besuchen, ist in Baden-Württemberg noch die Ausnahme. In den nächsten Jahren sollen die Hürden abgebaut werden. Grüne und SPD haben im Koalitionsvertrag angekündigt, dass Eltern behinderter Kinder die Schule frei wählen können. Denn 2008 hat Deutschland die UN-Konvention für die Rechte Behinderter unterzeichnet. Diese betrifft auch das Thema Bildung. Seit dem Schuljahr 2010/11 wird in fünf Modellbezirken - Stuttgart, Mannheim, Freiburg, Konstanz und Biberach erprobt, wie inklusive Bildungsangebote aussehen könnten.

Die Skepsis ist verschwunden

Die Skepsis ist verschwunden

Eltern, die ihre behinderten Kinder an einer Regelschule schicken wollen, stoßen bisher häufig auf Hindernisse: Viele Schulen haben keine Aufzüge und Toiletten für Rollstuhlfahrer. Blinde oder taube Schüler benötigen spezielle Geräte und Arbeitsmaterialien, andere sind auf einen Lernbegleiter angewiesen. Doch Ämter lehnen es teilweise ab, die Kosten für solche Hilfen zu übernehmen. Teilweise haben Lehrer und Eltern auch Berührungsängste.

"Ich war skeptisch, als es hieß, dass einige behinderten Kinder in die erste Klasse aufgenommen würden", berichtet eine Mutter an der Grundschule in Baltringen. Ihre Befürchtung, dass ihr Sohn beim Lesen- oder Rechnenlernen von den behinderten Kindern ausgebremst werden könnte, ist längst verschwunden. Denn der Unterricht ist auf Kinder mit unterschiedlichen Voraussetzungen ausgerichtet.

Wenn zum Beispiel ein neuer Buchstabe eingeführt wird, sitzen alle im Kreis, schreiben ihn ab und sprechen Wörter nach, die damit beginnen. Zum Üben können die Kinder zwischen unterschiedlichen Materialien wählen. Einer mag Stifte, ein anderer malt ihn lieber mit dem Finger in den Sand und ein dritter prägt sich den Buchstaben ein, indem er ihn aus Knet bildet. Kinder, die schon schreiben können, nehmen sich andere Aufgaben vor. "Auch in einer reinen Grundschulklasse sind die Kinder sehr verschieden", sagt Schulleiterin Andrea Kohler. Um ihre Lust am Lernen zu bewahren, seien unterschiedliche Angebote nötig. "Für die behinderten Kinder erweitern wir das noch etwas."

Einzelnes Kind wird leicht zum Außenseiter

Damit gemeinsamer Unterricht funktioniert, brauche es gute Rahmenbedingungen, sagen die Schulleiterinnen Kohler und Krueger. Mit mehr als 20 Kindern in einer Klasse würde es nicht gehen. Auch sei die Zusammenarbeit mit den Sonderschulen wichtig. Wie viele Stunden Sonderpädagogen an den Regelschulen verbringen, hängt von der Zahl der behinderten Kinder ab. Doch nicht nur deshalb plädieren die Schulleiterinnen dafür, möglichst mehrere Behinderte in eine Klasse aufzunehmen. Ein einzelnes Kind werde leichter zum Außenseiter.

Voraussichtlich zum Schuljahr 2013/14 wird das Schulgesetz geändert. Ungeklärt sind noch die Kostenfragen. "Inklusion ist nicht kostenneutral zu haben", sagte der Tübinger Regierungspräsident Hermann Strampfer (CDU) bei einem Schulbesuch in seiner Modellregion. Wenn die Sonderschulen zeitweise Lehrer an die Regelschulen schicken, fehlen sie an ihrer eigenen Schulen. Denn auch dort geht der Unterricht weiter. Vor allem Eltern von Schwerstbehinderten wünschten sich oft, dass ihre Kinder in einem Schonraum aufwachsen können.