Der gehörlose Lehrer Christian Hermann lehrt Hörende, mit Händen zu sprechen Foto: Gottfried Stoppel

Schüler mit und ohne Behinderungen sollen künftig mehr gemeinsam lernen. Das ist nicht nur an Regelschulen möglich, sondern auch an Sonder­schulen. Zum Beispiel in Winnenden, wo die Schule für Hörgeschädigte auch von Normalhörenden besucht werden können.

Stuttgart/Winnenden - Was ist die Mehrzahl von Kind? „Kind“, sagen die Schüler, während sie mehrmals eine schnelle Handbewegung wiederholen, die Kenner der Gebärdensprache als „Kinder“ entziffern können. Die Sprache mit Mimik und Gesten, die viele gehörlose und hörgeschädigte Menschen zur Verständigung nutzen, funktioniert nach anderen Regeln als die Lautsprache. Für die Schüler an der Schule beim Jakobsweg in Winnenden bedeutet das üben, üben, üben.

„Wir machen Inklusion mit umgekehrtem Vorzeichen“, sagt Schulleiterin Beate Löffler. Sie und ihr Team haben die private Sonderschule für Hörgeschädigte vor einigen Jahren für Schüler geöffnet, die ihren Abschluss auch an einer regulären Schule machen könnten. Das Angebot kommt gut an.

Seit vier Monaten lernt Corinna das Reden mit den Händen. Nach der mittleren Reife hat sie sich beim Berufskolleg Gebärdensprache (BKG) angemeldet, weil sie die Fachhochschulreife machen und später einmal mit Hörbehinderten arbeiten möchte. Einige ihrer Klassenkameraden entschieden sich für diesen Schwerpunkt, weil Eltern oder Geschwister hörgeschädigt sind.

Mehrmals in der Woche steht für die 23 normalhörenden Schüler im BKG das Sprechen mit den Händen auf dem Stundenplan. Im Halbkreis sitzen sie um ihren Lehrer Christian Hermann, den Einzigen im Klassenzimmer, der auf diese Form der Verständigung angewiesen ist, weil er gehörlos ist. Langsam und deutlich sprechen, sich dem Zuhörer zuwenden, damit er auch die Worte von den Lippen mitlesen kann, das zählt zu den ersten Lektionen, die Hermann seinen Schülern mitgibt.

Auch Spezialfächer wie Psychologie und Kommunikation

Neben der Gebärdensprache beschäftigen sich diese in Spezialfächern wie Psychologie und Kommunikation mit der Lebenswelt, Lebensart und Sprache der Hörgeschädigten. Ansonsten stehen alle Fächer auf dem Plan, die auch an anderen zweijährigen Berufskollegs vorgeschrieben sind, etwa Deutsch, Mathematik, Englisch, Religion, Geschichte/Gemeinschaftskunde. Dazu kommen noch Praktika.

Bisher ist die Schule beim Jakobsweg die einzige in Deutschland mit einem solchen Angebot. „Wir benötigen zusätzliche Fachkräfte in diesem Bereich“, sagt Schulleiterin Beate Löffler. Nach Berechnungen des Gehörlosenverbandes Baden-Württemberg wären allein für die etwa 8000 Hörgeschädigten im Südwesten 250 zusätzliche Gebärdendolmetscher nötig – zur Unterstützung am Arbeitsplatz und bei Behördengängen, in der Schule oder bei Arztbesuchen.

Der Abschluss in Winnenden ist eine gute Voraussetzung für ein solches Studium, aber auch für jede Ausbildung, nicht nur im sozialen Bereich. „Die Gebärdensprache ist eine Bereicherung für Hörgeschädigte und Hörende, eine zusätzliche Sprache“ sagt Löffler. Wieder anerkannt ist sie erst seit etwa zehn Jahren. Hörgeschädigte müssten sich auf die sprechende Welt einstellen und mit dem Lippenlesen zurechtkommen, hieß es jahrzehntelang.

Die guten Erfahrungen mit dem BKG haben Löffler und ihr Kollegium dazu bewogen, die Tore noch weiter aufzumachen. Im Berufskolleg Technik und im Berufskolleg Gesundheit und Pflege lernen Schüler mit und ohne Behinderungen gemeinsam für die Fachhochschulreife. Pia und Fjolla haben die mittlere Reife an allgemeinen Schulen gemacht. Wegen der Nähe und des Schwerpunkts, aber auch wegen der kleinen Klasse habe sie sich danach für die Sonderschule entschieden, sagt Fjolla, die gern eine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht hätte, dafür aber zu jung ist. Bereut hat sie ihre Wahl noch keinen Tag. Der Zusammenhalt in der bunt gemischten Klasse sei groß, die Lehrer seien engagiert, sagt Pia, die später einmal Sozialarbeit studieren möchte.

Jessica kommt extra aus Darmstadt angefahren

Ihre Freundin Jessica kommt von einer Sonderschule für Hörgeschädigte und wollte auch unbedingt wieder an eine solche, um die Fachhochschulreife zu machen. Dafür nimmt sie die lange Fahrt aus Darmstadt in Kauf. An die Regelschule hat die 20-Jährige keine gute Erinnerung. In der fünften Klasse schickten die Eltern das schwerhörige Mädchen zur Hauptschule – darauf rutschten ihre Noten in den Keller. Zu laut, zu große Klassen, zu wenig Unterstützung durch die Lehrer. Weil sie sich zurückzog, galt sie als desinteressiert und gelangweilt.

Auch Sebastian, der gehörlos geboren wurde, dank eines Cochlea-Implantats, einer Hörprothese, jetzt aber einigermaßen hören kann, könnte sich nicht vorstellen, in einer großen Klasse zu sitzen. Durch den Besuch einer Sonderschule habe er sich nie ausgegrenzt gefühlt, erzählt der 20-Jährige aus Baden. Von klein auf kickte er im örtlichen Fußballverein, seine Kumpels stellten sich auf ihn ein. Der einzige Nachteil an seiner neuen Schule sei, dass er Familie und Freunde nur am Wochenende sehe.

Das hört Schulleiterin Löffler gern. Denn seitdem Deutschland 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet hat, wird viel über gemeinsamen Unterricht von Schülern mit und ohne Behinderungen diskutiert. Die Regelschulen müssten sich mehr für Kinder mit Einschränkungen öffnen, fordern die einen, Sonderschulen müssten erhalten bleiben, sagen andere. Im Februar will Kultusminister Andreas Stoch (SPD) ein Inklusionsgesetz vorlegen, das zum kommenden Schuljahr in Kraft tritt. Viele allgemeine Schulen befürchten, überfordert zu sein, wenn die Sonderschulpflicht abgeschafft wird.

„Hier kann ich mich viel besser konzentrieren"

„Wir beraten berufliche Schulen, die hörgeschädigte Schüler aufnehmen“, sagt Löffler. Doch auch ihre eigene Schule soll sich entwickeln. Seit 2013 gibt es einen Gymnasialzweig. Nach der siebten Klasse können gute Schüler aller Schularten in das sechsjährige berufliche Gymnasium mit Schwerpunkt Ernährung, Soziales und Gesundheit wechseln.

„Hier kann ich mich viel besser konzentrieren als an meinem früheren Gymnasium“, erzählt ein Mädchen. Auch dass sie ein Jahr mehr Zeit hat, findet sie gut. Vom gemeinsamen Unterricht profitieren beide Gruppen, sagt Lehrerin Gabriele Benz. „Für hörbehinderte Schüler bringen die Gleichaltrigen ohne solche Einschränkungen neue Anregungen, die Regelschüler fühlten sich in ihrer neuen Umgebung oft entspannter als an ihren ehemaligen Schulen.“

Das hat sich herumgesprochen. „Wir könnten viel mehr Jugendliche aufnehmen“, sagt die Schulleiterin. Vorrang haben die Schüler mit Einschränkungen, Regelschüler kommen zum Zug, wenn noch Plätze frei sind. Bevor sie zugelassen werden, findet ein Gespräch statt, denn die Schule erwartet von ihnen, dass sie sozial interessiert sind, sich auf ihre Mitschüler einlassen und Rücksicht nehmen. „Bei uns klappt das ganz gut“, erzählt Pia, in deren Klasse auch zwei Autisten sitzen. Dass einer der beiden für sich sein will, werde von allen respektiert. „Das ist wirklich etwas Besonderes.“