Hessen lässt seine Gemeinden im Regen stehen, meint der Bürgermeister von Neckarsteinach, Herold Pfeifer. Foto: Müller

Das hessische Städtchen Neckarsteinach will lieber zu Baden-Württemberg gehören. Das ist kein Marketing-Gag, sondern eine Mischung aus Haushalts- und Identitätskrise. Ob es zur Fahnenflucht kommt, ist dennoch fraglich.

Neckarsteinach - Je weiter von Rom, desto besser die Katholiken, sagt der Volksmund und meint damit Menschen, die in der Diaspora leben. Fern ihrer Heimat, ausgegrenzt und isoliert, geben sie sich besonders fromm. Auf das Städtchen Neckarsteinach bezogen, müssten seine Bürger dann eigentlich 200-prozentige Hessen sein.

In der Zange zwischen den badischen Nachbarn und dem Schwabenfluss Neckar verbindet sie nämlich nur eine dünne Nabelschnur mit dem Mutterland. Wie eine Exklave reicht das schmucke Städtchen hinein in fremde Gefilde. Je weiter von Wiesbaden, desto besser die Hessen? Manchmal kann sich der Volksmund auch täuschen.

„Hessischer Wein? Ja, den gibt’s, aber der wird bei uns nicht nachgefragt“, sagt die freundliche Frau vom Getränkemarkt und empfiehlt eine Cuvée aus dem badischen Leimen. Ein paar Meter weiter trommelt der Fußballverein SpVgg 1912 auf einem Plakat für sein nächstes Heimspiel. Es geht gegen Bammental – Kreisklasse B, Heidelberg.

Dass die beiden Marktfrauen an der Steinachbrücke („probieren Sie mal die Totentrompeten“) aus dem badischen Sinsheim stammen, passt ins Bild. Und es verwundert auch nicht mehr, dass man im Amtszimmer des Bürgermeisters als Erstes über einen Fußball stolpert, der die Aufschrift trägt: „Wir können alles – außer Hochdeutsch“.

„Den hat mir ein Radioreporter geschenkt“, sagt Herold Pfeifer, ein wuseliger Anfang-60er mit kurzem Bart und hoher Stirn. Seit er vor Tagen in der Ratssitzung darüber räsoniert hat, wie es denn wäre, nach Baden-Württemberg zu wechseln, geben sich Journalisten bei ihm die Klinke in die Hand. Selbst der Deutschlandfunk vermeldete der Nation: „Neckarsteinach möchte nicht mehr hessisch sein.“

„Ja, das kann ich mir vorstellen“, sagt der SPD-Mann – wenn Wiesbaden weiterhin so schlecht mit den Gemeinden umgehe. Die Regierung brocke ihm nämlich jedes Jahr ein Defizit von 700 000 Euro ein, weil er nun eine andere Buchführung machen müsse. Die sogenannte Doppik verlange, dass er nun auch die Folgekosten von Investitionen einberechne.

Schnaubend hebt er einen Ordner mit der Aufschrift „Kommunaler Finanzausgleich 2016“ und lässt ihn wieder fallen – den Regierungsvorschlag für neue Finanzbeziehungen zwischen Land und Gemeinden. Auch davon erwartet er Ungemach. Zu allem Überfluss flatterte ihm kürzlich die Direktive ins Haus, doch bitte schön bereits 2017 die schwarze Null zu erreichen – nicht erst 2020, wie ursprünglich vorgesehen.

Nur unter Protest habe seine Stadtverordnetenversammlung – so heißt in Hessen der Gemeinderat – die Grundsteuer erhöht, berichtet Pfeifer. Die Gewerbesteuer werde bald folgen. „Wir werden teurer, unsere badischen Nachbarn aber nicht“, rechnet der Bürgermeister der 3800-Einwohner-Stadt vor: Er fürchtet, dass dann die eine oder andere Firma abwandert und Neckarsteinach den Gürtel enger schnallen muss. Freiwillige Leistungen wie die öffentliche Schulbibliothek seien dann als Erstes dran.

Baden-Württemberg gehe mit seinen Gemeinden einfach besser um, findet der Verwaltungsfachmann. Ein Urteil, für das ihm manch hessischer Kollege Beifall zollte. Selbst der CDU-Landrat hat ihm sekundiert und angekündigt, er würde am liebsten „per Handschlag“ mit dem ganzen Kreis Bergstraße zum südlichen Nachbarn wechseln.

Und doch: So richtig ernst nehmen die Drohung bisher nur wenige. Fahnenflucht? Man gehört schließlich seit 200 Jahren zu Hessen. „Ja, es ist Taktik dabei“, räumt Pfeifer ein, der sich als Ur-Hesse versteht, wenngleich er in Baden geboren wurde. Taktik, um mehr für den Ort herauszuholen. Er lässt aber keinen Zweifel daran, dass er auch den letzten Schritt gehen würde, wenn alles andere nichts nützt.

Zunächst müssen sich aber erst einmal die Stadtverordneten einigen. „Bisher hat dort niemand ‚Blöder Hund‘ zu mir gesagt“, lacht Pfeifer. Das vielleicht nicht. Aber Skepsis gibt es schon. „Das war ein absoluter Alleingang“, sagt CDU-Mann Karl Neidig und vermutet, dem Bürgermeister sei die Sache etwas aus der Hand geglitten. Ohne die hessischen Zuschüsse gebe es doch weder das Familienzentrum noch die Bibliothek: „Wir haben nicht nur Nachteile.“

Neidig glaubt ohnehin nicht, dass das südliche Nachbarland die arme Braut überhaupt freien würde. Wenn er sich da mal nicht täuscht! „Aber sicher, das ist Teil unserer Willkommenskultur“, ulkt der Stuttgarter Finanzminister Nils Schmid, und Ministerpräsident Winfried Kretschmann tönt gravitätisch: „Wir fühlen uns in höchstem Maße geehrt.“ Insgeheim lacht er sich ins Fäustchen, denn einen besseren Trumpf für die Verhandlungen mit den eigenen Gemeinden kann er sich gar nicht wünschen. Eine ganz andere Frage ist, ob Hessen seine südlichste Stadt überhaupt ziehen ließe. „Wir sehen keinen Grund, einen solchen Wechsel zu unterstützen“, kanzelte dieser Tage Staatskanzleichef Axel Wintermeyer den Schultes ab und warf dem SPD-Mann Parteipolitik vor. Nach Art des gestrengen Hausvaters ermahnte er die widerborstigen Landeskinder außerdem, ihre Hausaufgaben zu machen: „Die Finanzdaten zeigen uns, dass Neckarsteinach ein Einnahme- und Ausgabeproblem hat.“ So liege die Gemeinde mit den Personal- und Sachkosten weit über dem Durchschnitt.

Ob diese Rüge die Liebe zu Hessen wiederentfacht, ist allerdings fraglich. „Wir sind hier wirklich kein Luxusbetrieb“, sagt der Grünen-Stadtverordnete Martin Petter. Im Gegensatz zu den badischen Nachbarn habe man zum Beispiel nie ein Schwimmbad besessen. „Wir haben nur Nachteile, weil wir zu Hessen gehören“, klagt er und berichtet von umständlichen Fahrten zu Behörden in der fernen Kreisstadt oder zum Amtsgericht in Fürth/Bergstraße: „Die Sache ist überfällig.“

Dass es in Neckarsteinach eine Mehrheit für den Wechsel gibt, davon zeigen sich viele Bürger überzeugt. Es gebe so etwas wie eine „badische Grundgesinnung“, heißt es. Nun ja, der Abwasserzweckverband wird dazu nur am Rande beitragen. Dann schon eher der gemeinsame Ferienkalender. Die Neckarsteinacher Realschule wird nämlich auch von badischen Schülern besucht, während die Gymnasien im Nachbarland ihre Türen für Hessen offen halten. Zum „Schaffen“ pendeln die meisten ohnehin in die nahe Metropolregion Mannheim/Heidelberg.

Nur vor den Bordellen geht der Schlagbaum runter. Neckarsteinach verfügt über drei solche Etablissements, was beim Nachbarn undenkbar wäre. In Baden-Württemberg ist Prostitution nämlich nur in Städten mit mehr als 35 000 Einwohnern erlaubt. Deshalb haben die Damen dem Vernehmen nach die meisten Stammkunden aus der Kurpfalz und dem Kraichgau: „Zwischen Heidelberg und Heilbronn ist doch quasi Sperrbezirk!“, klärt der Bürgermeister auf.

Bei einem Seitenwechsel müssten die Puffs also schließen. Daran wird die Sache aber nicht scheitern. Schon eher an demokratischen Hürden, denn die Parlamente beider Länder müssten zustimmen. Ob auch zwei landesweite Volksabstimmungen nötig sind, wie man in Wiesbaden vermutet, ist allerdings noch umstritten. Mehrere Verfassungsrechtler haben schon den Kopf geschüttelt: Allenfalls die Neckarsteinacher müssten befragt werden.

Doch vielleicht kommt es ja gar nicht so weit. Vielleicht hat die Landesregierung ja noch ein Einsehen. Pfeifer lehnt sich im Sessel zurück und sagt: „Ich habe einen Stein ins Wasser geworfen.“ Dabei er will beobachtet haben, wie sich die Wellen über den Neckar bis nach Mannheim und von dort über den Rhein bis Wiesbaden fortgepflanzt haben. „Dort“, so frohlockt er, „ist jetzt ein kleines Hochwasser angekommen.“