Musik und Politik haben für Hans-Jürgen Gölz bereits in den 1968er-Jahren eng zusammengehört. Foto: Ines Rudel

Unter dem Motto „Talkin’ about my Generation“ sprechen Zeitzeugen über die 68er – und über sich.

Geislingen - Vor 50 Jahren knisterte es gewaltig in der alten Bundesrepublik. Der Vietnamkrieg, der Mord an Benno Ohnesorg, das Attentat auf Rudi Dutschke und der Prager Frühling bestimmten die Schlagzeilen. Viele Junge begehrten auf: gegen die Eltern, die Politik, die Lehrer, gegen alles, was aus ihrer Sicht zum sogenannten Establishment zählte. In Geislingen fanden Ende der 1960-er Jahre eher weniger Klassenkämpfe als vielmehr Rockkonzerte statt, Jugendtreff wurden eröffnet. Einige Zeitzeugen erinnern sich noch gut daran.

Der ehemalige Hochschulrektor Werner Ziegler, Jahrgang 1950, war damals Student in Würzburg. Für einen typischen 68er-Vertreter hält er sich aber nicht. „Ich war derart konservativ, das kann man sich heute nicht mehr vorstellen“, gibt er zu. Erst als die Münchener Politik die Vorschriften an der Uni Würzburg zu bestimmen versuchte, sei er auf die Straße gegangen.

Vikar musste wegen seiner Kleidung zum Psychologen.

Anders die frühere evangelische Dekanin Gerlinde Hühn, geboren 1949: sie erinnert sich daran, wie sie gegen die Notstandsgesetzgebung demonstriert hat und dass zu der Zeit die Pille erfunden wurde. Dass ihre Mutter dann sagte, was für ein Glück sie doch mit der Pille hätten, habe sie dann aber doch nachdenklich gestimmt. Auch die Anfänge der Frauenbewegung sind Hühn in Erinnerung: „Es gab eine Demokratisierung in der Gesellschaft, es war ein ziemlicher Umbruch. Es war nötig, dass der Mief mal rauskam.“

Fritz Gehring, Pfarrer im Ruhestand, begann während seines Vikariats, sich mit den Ideen der 68er-Bewegung zu beschäftigen. Weil er zuweilen einen orangefarbenen Talar trug und nicht immer einer Meinung mit seinen Vorgesetzten war, sollte er sich auf Druck der Kirche psychologisch untersuchen lassen, wie er erzählte.

Der Wehrdienst als Fluchtmöglichkeit aus dem Elternhaus

An die Konkurrenz unter den Musikbands in Geislingen erinnert sich Hans-Jürgen „Besbie“ Gölz, Jahrgang 1946. Er sorgte mit seinen „Friends“ auch für die musikalische Unterhaltung während des Zusammentreffens der 68er-Vertreter in der Geislinger Rätsche. Auch seine Zeit bei der Bundeswehr ist Gölz in Erinnerung geblieben. Damals hätten fast alle jungen Männer Wehrdienst geleistet. Möglichkeiten zur Verweigerung gab es nur sehr wenige. Doch wenigstens bot der Militärdienst die Gelegenheit, das Elternhaus zu verlassen. „Es war nicht so einfach mit den Vätern in dieser Zeit“, sagte Gölz. Er erinnerte sich, dass es immer ernst wurde, wenn sein Vater von Russland erzählte.

Über vieles andere wurde überhaupt nicht gesprochen. Dass es in Geislingen ein Konzentrationslager gab, habe er erst 1980 von einem Nachbarn erfahren. Dieses Thema sei unter den Teppich gekehrt worden, erklärte Gölz. Heute herrsche mehr Offenheit, auch in einer Stadt wie Geislingen. Das sei eine Folge der 68er-Bewegung. An die Anfänge des örtlichen Jugendklubs und an den Tag der Jugend erinnerte sich Wolfgang Binder, geboren 1945, und ein Kenner der einstigen Jugendszene in Geislingen. „Wir sind uns vorgekommen wie Che Guevara.“ Aber es sei nicht immer alles lustig gewesen in dieser Zeit. Er berichtete auch von seiner Angst vor einem Atomkrieg.

Ärger über die angepasste Jugend von heute

Dass es inzwischen kaum noch etwas gibt, für das Jugendliche kämpfen müssten, behauptete Sarah Buchwald, geboren 1986, von der Geschäftsstelle des Jugendgemeinderats Geislingen. „Sie haben alles, was man braucht“, sagte sie. Dass es nicht einfach ist, Heranwachsende für ein politisches Engagement zu begeistern, weiß sie. „Man muss sie aus ihrer Komfortzone holen.“ Wenn die Eltern tätowiert sind, Piercings tragen, Lehrer mehr Kumpel als Autorität sind, alle Hip-Hop hören und die Erwachsenen die cooleren Smartphones haben, wird es für den Nachwuchs eben eng mit den Möglichkeiten zur Revolution.

Am Ende ist es vielleicht sogar gerade diese Angepasstheit, über die sich die Älteren am meisten aufregen. Gut gebügelte Hemden tragen, ein BWL-Studium ansteuern, noch vor dem 18. Geburtstag einen Bausparvertrag abschließen und sich mindestens alle zwei Monate beim Frisör einen ordentlichen Kurzhaarschnitt machen lassen – diese Art der Revolution erwischt die Revolutionäre von einst wohl eiskalt.