Ulrich Wagners „Zwischenraum“ von 2018 Foto: F. Wamhof/VG Bild-Kunst

Im Museum Ritter bietet Ulrich Wagner der farblos präsentierten Sammlung Paroli mit verfremdeten Architekturgrundrissen – von Zwangslagern der Nazi-Zeit.

Waldenbuch - Vier Ecken, aber keine Farbe. Kann das funktionieren? Häufig ist es doch erst die bunte Ausmalung, die dem geometrischen Formenschatz der konstruktiv-konkreten Kunst visuelles Leben schenkt. Das auf quadratische Bilder spezialisierte Museum Ritter in Waldenbuch vertraut in seinem aktuellen Sammlungsquerschnitt fast ausschließlich auf unbunte Werke. „Weiß ist der Grund“ überschreibt sich die Auswahl von rund sechzig Arbeiten, die vor allem ein Anliegen eint: der Versuch, aus asketischem Kolorismus ästhetisches Kapital zu schlagen. Denn fehlt die Farbe, beruht die Bildwirkung allein auf dem grafischen Strich und der Struktur. Eine Herausforderung, mit der längst nicht alle Künstler souverän umzugehen wissen, so dass der Werkdurchlauf im Obergeschoss des Privatmuseums das Betrachterauge relativ schnell ermüdet.

Gewiss – einige optische Kitzelspiele bleiben nicht ohne Wirkung. Während die Nagelspirale von Altmeister Günther Uecker virtuelle Rotationskräfte entfesselt, verwandelt sein jüngerer Kollege Philippe Decrauzat schlichte Schwarzweißstreifen in eine illusionistische Flatterfahne. Auch eine 2008 entstandene Monumentalkomposition von Esther Stocker, die das Crossoverprinzip Jackson Pollocks in höhere Mathematik übersetzt, ist recht originell.

Viele Quadrate verlieren sich in der eigenen Beschränkung

Doch spätestens, wenn Beat Zoderer rund vierzig erblasste oder ergraute Quadrattäfelchen in Petersburger Hängung an der Wand verteilt, wird der Schau ihr eigenes Thema zum Problem. Sie zeigt nicht, was mit Schwarz oder Weiß möglich ist, sondern offenbart etwas anderes: wie viele Künstlergenerationen sich damit abmüht haben, jenes legendäre „Schwarze Quadrat“ zu variieren, das der russische Avantgardist Kasimir Malewitsch vor über hundert Jahren schuf. Es wird in zwei Dreiecke geschnitten (Alfonso Hüppi) oder in sein fahles Gegenteil verwandelt (Raimund Girke), um in der Kunstgeschichtskarikatur von Ruppe Koselleck schließlich Beinchen zu bekommen und eine Treppe hinunterzulaufen. Aber auch Vera Molnars verdrehte Buchstabenkästchen oder die typografischen Karawanen von Peter Roehr verlieren sich in der eigenen Beschränkung.

Zum Glück vermag es die parallel laufende Soloschau von Ulrich Wagner im Erdgeschoss, den farb- wie leblosen Geometrien Paroli zu bieten. Dabei erinnert der Kölner Künstler (Jahrgang 1959) daran, dass die Abstraktion kein geschichtsleerer Raum ist. Die tektonischen Konfigurationen der Werkserie „Ortsgedächtnis“ lassen an Architektensoftware denken, doch sie betreiben eine Archäologie der jüngeren Vergangenheit. Wagner verfremdet sehr reale Schreckensorte. Bereits die auf schwarzem Grund leuchtenden Grundrisse in „Tanzbrunnen“ sehen nicht zufällig aus wie Industriebaracken. Hinter dem harmlos folkloristischen Titel verbirgt sich der Name eines Zwangsarbeiterlagers aus dem Zweiten Weltkrieg.

Man glaubt, in einen tiefen Schacht zu stürzen

Und so ist dann auch Wagners grandiose Lichtinstallation von einer verfänglichen Schönheit, die zu bewundern man sich fast schämt. Rote Leuchtröhren erhellen das begehbare schwarze Verlies, die Spiegelungen auf dem polierten Edelstahlboden erweitern den glühenden Raum ins Unendliche, so dass man erschrickt und glaubt, in einen tiefen Schacht zu stürzen. Das mulmige Gefühl ist berechtigt, allerdings aus einem anderen Grund: Die computergrafischen Gitter, die Decken wie Wände überziehen, basieren auf dem Lageplan von Auschwitz. Jener Stätte also, wo sich mathematische Präzision wie nirgendwo sonst zum Helfershelfer für ein Jahrhundertverbrechen gemacht hat. Vor diesem Hintergrund ist Wagners illuminierter Raum die Grabkammer der Geometrie.