Das historische Gerichtsgebäude in Stuttgart-Stammheim ist bald Geschichte – aber einiges Inventar wird gerettet. Foto: LICHTGUT/Max Kovalenko

Ein nüchternes Gerichtsgebäude in Stuttgart-Stammheim hat bundesdeutsche Geschichte geschrieben. Jetzt steht der Abriss bevor. Ein Rundgang durch bizarre Räume, die der Öffentlichkeit verborgen blieben.

Die Uhr im Foyer zeigt die falsche Uhrzeit an. Und tatsächlich scheint die Zeit stillzustehen. Mehrzweckgebäude nennt sich der Bau nüchtern, der heute beinahe wie ein Museum anmutet. Orangefarbene Schalensitze aus Plastik. Gittertüren. In einem Gang hängt ein Münzfernsprecher mit D-Mark-Aufschrift. Alles wirkt wie aus der Zeit gefallen.

 

Das Gerichtsgebäude neben der Justizvollzugsanstalt (JVA) in Stuttgart-Stammheim hat Geschichte geschrieben. Das Gefängnis galt in den 1970er Jahren als modernste und sicherste Einrichtung ihrer Art. Deshalb saßen dort die Terroristen der Roten Armee Fraktion (RAF) ein. Doch wo gegen sie verhandeln, angesichts höchster Sicherheitsbedenken und politischer Spannungen? Eigens für die Verfahren gegen die RAF-Mitglieder Ulrike Meinhof, Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe wurde deshalb ein Hochsicherheitsgerichtsgebäude direkt neben der JVA errichtet. Es ging 1975 in Betrieb und sollte ein Provisorium sein.

„Eigentlich wollte man es danach als Sport- oder Werkhalle nutzen“, sagt Corinna Bosch. „Doch dazu kam es nie“, weiß die Leiterin des Amts Ludwigsburg von Vermögen und Bau Baden-Württemberg, dem für die Stammheimer Justizgebäude zuständigen Landesbetrieb. Denn es folgte Prozess auf Prozess – allein 56 Verfahren des Oberlandesgerichts Stuttgart mit RAF-Bezug. Danach folgten Rocker und andere kritische Prozesse. Bis zum April 2019, als das neue Gerichtsgebäude direkt nebenan eröffnet wurde. Seither steht der historische Bau leer. Was aus ihm wird, war jahrelang umstritten. Das Gerichtsgebäude mit dem großen Saal, hallenartig aus Stahlbetonfertigteilen gebaut, der Kantine, den getrennten Bereichen für Gefangene, Publikum, Richter, Sicherheitskräfte und Staatsanwaltschaft gilt als Kulturdenkmal. Doch ein Museum an dieser Stelle schien undenkbar. Erst im vergangenen Sommer gaben die Denkmalschutzbehörden grünes Licht für den Abriss.

Abriss von Herbst an

Er wird im Mai im Inneren mit einer Schadstoffsanierung beginnen. „Nach Ende der Brutsaison im Herbst geht es dann mit dem Abriss der Gebäudehülle weiter“, sagt Corinna Bosch. Dafür rechnet sie mit rund einem halben Jahr. Für Vögel, die sich dort wohl fühlen, hat man eigens Nistkästen in der Umgebung als Ersatz aufgehängt.

Was danach an dieser Stelle passiert, steht bereits fest – nur der genaue Zeitpunkt noch nicht. Der Umzug des Justizvollzugskrankenhauses vom Hohenasperg nach Stammheim ist beschlossene Sache. 25 Millionen Euro für die Planung stehen bereit. Ein modernes Gefängniskrankenhaus mit 205 Haftplätzen und dem Schwerpunkt Psychiatrie soll entstehen. Ein Projekt, das noch viele Jahre dauern wird. Auf dem Hohenasperg verbleibt dann die sozialtherapeutische Anstalt, die Festung wird also weiter für die Justiz genutzt.

Umfängliche Dokumentation

Ganz verschwinden soll der alte RAF-Gerichtssaal aber nicht. Zum einen, weil in den vergangenen Monaten umfangreiche Foto- und Videodokumentationen gemacht worden sind, um Eindrücke aus dem Gebäude für die Nachwelt zu erhalten. Dazu gehört auch eine 3-D-Begehung. Zum zweiten, weil viele Stücke der Einrichtung gerettet werden. Das große Landeswappen etwa soll in den Neubau nebenan umziehen. Und vieles andere – auch solches, was für Jahrzehnte verborgen war – wird künftig öffentlich zu sehen sein.

Denn zuletzt haben Vertreter mehrerer Museen das Gerichtsgebäude besucht. Beim Gang durchs Haus haben sie ihre Aufkleber an vielen Einrichtungsstücken hinterlassen. Spannende Dinge gibt es da. Eine Überwachungszentrale mit Monitoren, Telefonhörern und Pulten, die anmuten wie aus einem alten Agentenfilm. Oder die Zellen, in denen die Angeklagten sitzen mussten, wenn die Verhandlung gerade nicht lief. Ausgestattet mit Stuhl, Tisch, Waschbecken, Spiegel und Toilette – und schwerer Stahltür mit kleinem Fenster zum Aufklappen. Im schalldichten Besprechungsraum der Richter stapeln sich heute noch die dicken Wälzer der Strafprozessordnung. Manche Räume wirken, als ob hier seit Ewigkeiten niemand mehr gewesen wäre, andere wiederum, als sei jemand nur mal eben kurz rausgegangen.

Türen, Pulte, Richterbank werden abgeholt

Drei Museen werden sich die Einrichtung aufteilen. Und zwar das Haus der Geschichte Baden-Württemberg in Stuttgart, das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn sowie das Strafvollzugsmuseum in Ludwigsburg. „Sie haben sich untereinander geeinigt, wer welches Stück bekommt“, sagt Tanja Stahlbock, die Abrissprojektleiterin bei Vermögen und Bau. Türen werden ausgebaut, Pulte, Telefone und Mikrofone. Auch die Richterbank und eine sechs Meter breite Anklagebank werden abgeholt. Das soll bereits nächste Woche erfolgen.

Nicht umziehen wird allerdings eine der größten Kuriositäten des Gebäudes. Eine, die sich jahrzehntelang direkt vor den Augen der Besucher im Saal befand, und die sie doch nicht sehen konnten. Denn auf einer der weißen Steinwände, die den Gerichtssaal an den Ecken zu den Gängen dahinter abschirmen, findet sich eine Strichliste. Allerdings auf der Rückseite, hin zum Richterzimmer. Dort haben Vertreter der Anklage und Richter über die Jahre die Prozesse dokumentiert. Mit Kreide in verschiedenen Farben. Hinter dem Namen des Verfahrens oder der Angeklagten findet sich für jeden Verhandlungstag ein Strich. Ein Gesamtkunstwerk in beachtlicher Größe, mehrere Meter hoch und breit.

„Die Wand mit den Kreidestrichen wird nirgendwohin gehen. Die Museen haben davon Abstand genommen“, sagt Tanja Stahlbock. Vermutlich wäre es zu kompliziert und zu teuer, die Wände abzutransportieren und die Kreide darauf dabei zu erhalten. Und so ist am Ende dann doch für ein Stück Geschichte in Stammheim die Zeit abgelaufen.

Dauerbaustelle JVA Stuttgart

Veränderung
Die Justizvollzugsanstalt (JVA) Stuttgart in Stammheim ist seit ihrer Eröffnung im Jahr 1963 immer wieder großen Erweiterungen und Veränderungen unterworfen. Der Ursprung ist der westliche Teil mit dem Hochhaus, in dem auch viele führende Köpfe der RAF saßen, und den umliegenden Gebäuden.

Gerichtsgebäude
Zwischen 1973 und 1975 wurde das Mehrzweckgebäude östlich daran anschließend, aber baulich von der JVA getrennt, errichtet, um die Prozesse gegen die RAF-Terroristen führen zu können. Es wird nun abgerissen.

Neue Projekte
Das inzwischen völlig veraltete Hochhaus sollte eigentlich längst abgerissen werden – zumal seit 2017 fünf neue Haftgebäude zur Verfügung stehen. Doch weil die Gefängnisse im Land nach wie vor überfüllt sind, werden von Sommer an im derzeit leer stehenden Hochhaus wieder 326 Haftplätze zur Verfügung stehen. Es ist dafür mit Kosten in Höhe von rund 20 Millionen Euro notdürftig saniert worden. Doch auch ein weiteres Hafthaus muss über kurz oder lang erneuert werden. Außerdem sind zuletzt eine neue Torwache und ein neues Gerichtsgebäude entstanden.