Auch die Müllwerker sind zuweilen Opfer von Unfällen. Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Für Lastwagen der Abfallentsorger werden die Regeln zum Rückwärtsfahren verschärft. Nur noch nach gründlicher Prüfung sollen Ausnahmen erlaubt sein.

Böblingen - Der Anlass war eigentlich erfreulich, aber Roland Bernhard war bei der Eröffnung der neuen Räume des Abfallwirtschaftsbetriebs (AWB) nicht zum Feiern zumute. „Die Einweihung wird überschattet von einem tragischen Unfall, bei dem durch eines unserer Müllfahrzeuge ein 84-jähriger Mann tödlich verletzt wurde“, sagte der Böblinger Landrat. Am 2. November war ein Mülllastwagen rückwärts in eine Sackgasse in Waldenbuch gefahren und hatte den Senior erfasst und überrollt. Er war sofort tot. Der Unfall ist auch eine tragische Bestätigung dafür, dass die Regelung zum Rückwärtsfahren in der Branche demnächst mit gutem Grund verschärft wird: Erlaubt ist es nur noch, wenn es keine andere Möglichkeit gibt, und nach eingehender Untersuchung der jeweiligen Straße. Nun gelte es, alle Sackgassen im Kreis auf deren Gefährdungspotenzial zu prüfen, teilt das Landratsamt mit.

„Rückwärtsfahrten versuchen wir bei der Abfallentsorgung möglichst zu vermeiden“, heißt es auch bei der Abfallwirtschaft Stuttgart (AWS.). Der städtische Eigenbetrieb setzt auf eine frühzeitige Mitsprache bei allen Bauvorhaben, um sicherzustellen, dass es ausreichend große Wendeflächen für die Müllfahrzeuge gibt. Auch bei der Planung der einzelnen Touren wird darauf geachtet, dass Rückwärtsfahrten möglichst nicht nötig sind. Dennoch sei es vor allem in Straßen, die im Stadtkessel vor einer Staffel endeten, erforderlich, rückwärts zu manövrieren. Auch Falschparker stellten die Fahrer oft vor große Probleme.

In Stuttgart nur mit Einweiser

„Rückwärtsfahrten sind laut Dienstanweisung aber nur mit Einweiser erlaubt“, erklärt Ulla Allgaier von der AWS-Stabsstelle Öffentlichkeitsarbeit. Falls ein Einweiser dabei im Rückspiegel aus dem Blickfeld des Fahrers gerate, müsse dieser sofort anhalten. Alle 75 AWS-Müllfahrzeuge seien zudem mit einer Kamera am Heck ausgerüstet, damit der Fahrer das Geschehen über einen Monitor im Führerhaus verfolgen könne. Die Kameras ersetzten aber auf keinen Fall die Einweiser.

„Unsere Mitarbeiter werden zwei Mal im Jahr geschult, obwohl das laut Vorschrift nur einmal nötig ist“, betont Allgaier. Bis jetzt sei in Stuttgart bei Rückwärtsfahrten noch kein Unfall passiert. Man schule aber lieber öfter, damit es auch dabei bleibe. „Unser Personal ist über den Ablauf des tödlichen Unfalls in Waldenbuch informiert worden“, betont Allgaier.

Im Kreis Göppingen meidet die Müllabfuhr Sackgassen schon seit Mitte der 1990er Jahre – angeblich mit wenigen Ausnahmen. „Es führt natürlich nicht immer zu Begeisterung bei den Bürgern“, sagt Dirk Hausmann. Denn laut Satzung müssten die Tonnen zu Sammelstellen gebracht werden – höchstens 200 Meter weit. „Wenn aus falsch verstandener Servicefreundlichkeit etwas passiert, haftet der Fahrer voll und ganz selbst“, erklärt der Leiter des Abfallwirtschaftsbetriebs, der den Müll von Fremdfirmen abholen lässt. Würden die rechtlichen Vorgaben nicht eingehalten, entfalle der Versicherungsschutz. Auch im Kreis Ludwigsburg sind die Anwohner gefragt. „Aus rechtlicher Sicht darf man in Sackgassen ohne Wendeplatte nicht einfahren“, erklärt Philipp Saar vom Unternehmen Suez, an das die Abfallverwertungsgesellschaft die Müllabfuhr vergeben hat. „Die Bürger müssen die Tonne an den Beginn ihrer Straße bringen.“

Auch Hightech reicht nicht immer aus

Der Böblinger AWB will außerdem untersuchen, ob die Lastwagen technisch aufgerüstet werden können. Suez hat beispielsweise mit Daimler einen automatischen Anfahrtstopp für das Vorwärtsfahren entwickelt, der auf Hindernisse reagiert. Wenn er zugelassen wird, soll er bald für den Rückwärtsgang konzipiert werden. „Aber 100-prozentige Sicherheit gibt es nicht“, sagt Philipp Saar. Neuere Modelle wie die Seitenlader, die nur mit einem Mann besetzt sind, sind rund um das Fahrzeug mit Kameras ausgestattet. Zum Standard bei allen Müllautos zählt der Signalton beim Rückwärtsfahren. Ein Einweiser ist schon lange vorgeschrieben. Allerdings gehören sie selbst zuweilen zu den Opfern wie vor einigen Jahren im Rems-Murr-Kreis, wo ein Müllwerker unter die Räder kam und schwer verletzt wurde.

„Bei uns wird auch künftig rückwärts gefahren“, sagt Manfred Siglinger von der Abfallwirtschaftsgesellschaft in Waiblingen. In den historisch gewachsenen Orten im Remstal gehe es gar nicht anders, erklärt der Abteilungsleiter, „die kann man nicht umbauen“. Für Sammelstellen gebe es dort keinen Platz. Bei Neubaugebieten schaut Siglinger genau hin: „Bei den hohen Baupreisen will niemand die Verkehrsfläche unnötig groß ausweisen“, kritisiert auch er zu klein geratene Wendeplatten. In Esslingen hat der Abfallwirtschaftsbetrieb die Müllabfuhr ebenfalls ausgelagert. Deshalb kann der Geschäftsführer Manfred Kopp zur Umsetzung der Regeln nichts sagen. „Es wird gehandhabt wie bisher“, lautet die Auskunft vom Abfallunternehmen Scherrieble: „Wir fahren weiter in Sackgassen.“

Kein Freifahrtschein

Regelung
Weil immer wieder tödliche Unfälle passieren, hatte die gesetzliche Unfallversicherung in diesem Jahr sogar ein komplettes Rückwärtsfahrverbot gefordert. Ende Oktober haben die Versicherungen, die Entsorgungswirtschaft und die Gewerkschaft einen Konsens gefunden: Danach müssen alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, das Rückwärtsfahren von Müllautos zu vermeiden – ansonsten ist eine Gefährdungsbeurteilung fällig, die für die jeweilige Stelle festlegt, wie die Situation gefahrenfrei gemeistert werden kann. Die neue Branchenregelung sei „kein Freifahrtschein“ für das Rückwärtsfahren, teilen sie mit.

Statistik Im AWB Böblingen wurden im vergangenen Jahr rund 70 Unfälle mit den Mülllastwagen gezählt, ein Dutzend davon im Rückwärtsgang. Bei allen habe es sich um Bagatellschäden wie verbogene Außenspiegel oder Kratzer am Kotflügel gehandelt. Personenschäden gab es keine. Die Firma Suez berichtet von zehn durch Rückwärtsfahren verursachten Schäden im Kreis Ludwigsburg. Aus den anderen Kreisen wurden keine Zahlen geliefert.