Enrico Pieri, ein Überlebender des NS-Massakers in St.Anna di Stazzema Foto: dpa

Am 12. August 1944 umzingeln vier Kompanien der 16. SS-Panzergrenadier-Division „Reichsführer SS“ der Waffen-SS das Dorf Sant’Anna di Stazzema in der Toskana. Drei Stunden später sind 560 Menschen tot. Die juristische Aufarbeitung des Verbrechens ist noch nicht abgeschlossen.

Am 12. August 1944 umzingeln vier Kompanien der 16. SS-Panzergrenadier-Division „Reichsführer SS“ der Waffen-SS das Dorf Sant’Anna di Stazzema in der Toskana. Drei Stunden später sind 560 Menschen tot. Die juristische Aufarbeitung des Verbrechens ist noch nicht abgeschlossen.

Die Nachricht

Mitten in die Vorbereitungen zur Gedenkfeier an diesem Dienstag anlässlich des 70. Jahrestages des SS-Massakers im Bergdorf Sant’Anna di Stazzema in Italien fällt ein Urteil des Oberlandesgerichts Karlsruhe (OLG). Während neun Helfer, die auch an dem Stuttgarter Bürgerprojekt Die Anstifter beteiligt sind, um das Ossario (übersetzt: Beinhaus) die Grünflächen säubern, einen Gottesdienst mit vorbereiten, und Mitglieder der deutsch-italienischen Gesellschaft Freunde der Friedensorgel Sant’Anna di Stazzema eine Konzertreihe in der Dorfkirche organisieren, kommt die Nachricht aus Deutschland. Das OLG habe entschieden, dass gegen den inzwischen 93-jährigen in Hamburg lebenden SS-Kompanieführer Gerhard S. Anklage erhoben werden kann. Das Urteil korrigiert die Stuttgarter Staatsanwaltschaft und ihren Oberstaatsanwalt Berhard Häußler. 2012 hatte die Stuttgarter Behörde nach neun Jahren Ermittlungen entscheiden: für eine Anklage reichen die Ergebnisse nicht aus.

Auch Thomas Renzenberger von den Anstiftern ist in diesen Tagen in Sant’Anna di Stazzema. Er sagt unserer Zeitung: „Diese Nachricht hat uns alle, aber vor allem Enrico Pieri sehr erleichtert. Das Stuttgarter Urteil war für ihn eine bittere Geschichte, ein giftiges Erbe in seinem Herzen.“ Renzensberger weiter: „Das Karlsruher Urteil ist für ihn, der als Kind das Massaker als einer von wenigen im Dorf überlebte, das richtige Signal aus Deutschland. Jahrzehnte hat Pieri, auch bei einem Besuch in Stuttgart, dafür gekämpft, dass die Verantwortlichen des Massakers vom 12. August 1944 zur Verantwortung gezogen werden.“

Das Gedenken

Es ist hoher Sommer in der Touristenregion Florenz/Siena/Lucca. Die Toscana-Fraktion aus Deutschland steht Schlange vor den Uffizien in Florenz, flaniert in der historischen Altstadt von Siena (Unesco-Weltkulturerbe) und genießt den Cappuccino auf der Piazza dell’anfiteatro in der Puccini-Stadt Lucca.

Nur 24 Kilometer nordwestlich von Lucca entfernt gruppieren sich in Sant’Anna di Stazzema 17 über die Hügel verstreute Häuser um die kleine Kirche St. Anna. In ihr wird an diesem Dienstag in einem Gottesdienst der 560 Menschen gedacht, die am 12. August 1944 einer von italienischen Soldaten geführten SS-Kolonne zum Opfer fielen. Und Enrico Pieri (80) werden wieder einmal Bilder bedrängen, die ihn Zeit seines Lebens nie losließen: Kompanien der 16. Panzergrenadierdivison der Waffen-SS fallen in das Dorf ein, treiben Bewohner und Flüchtlinge in der Kirche zusammen, ermorden Mutter, Vater, beide Schwestern, die Großmutter, Schuldkameraden, Spielfreunde. Unter den wenigen Überlebenden war auch Enio Manchini. Pieri verließ 1951 Italien, von dort aus baute er mit Enio Manchini und anderen Überlebenden eine Gedenkstätte und ein Museum auf. Zusammen mit dem Beinhaus und dem Kirchplatz bilden sie den 2000 gegründeten Nationalen Friedenspark.

Im Museum finden sich neben Überbleibseln der Familien und der historischen Chronologie des Schreckens auch Zeugenerinnerungen. Enrico Pieri schreibt: „Ich habe meine ganze Familie verloren.../Meine Kindheit ist ein wenig ein Leidensweg gewesen.../Aber ich habe vergeben.../aber nicht den bösen Ideologien../Wenn ich die jungen Deutschen sehe, die nach Sant’Anna hochsteigen, freu ich mich. Basta.“

Erst 2005 verurteilte das Militärgericht von La Spezia zehn frühere SS-Angehörige zu lebenslanger Haft; die Strafen aber wurden nie wirklich vollzogen.

Gegen das Vergessen

Sant’ Anna di Stazzema wurde zum Ort gegen das Vergessen. Im Rentenalter kehrte auch Enrico Pieri, der im Ausland sein Schicksal vergessen wollte und nicht konnte, in sein Heimatdorf zurück. Dass Pieri und Manchini mit ihren Familien und Freunden an diesem Dienstag zum Gottesdienst Orgelmusik werden hören können, verdanken sie dem Musiker-Ehepaar Maren und Horst Westermann aus Essen – Benefizkonzerte halfen, anstelle der zerstörten Orgel eine neue zu bauen. In der „Konzertreihe 2014“ wird an diesem Freitag der Organist Lorenzo Marzona ein Konzert zur Erinnerung an seinen Onkel Gioncarlo Marzona spielen. Auch er wurde 1944 im Befreiungskampf erschossen.

„Sehr sinnvolle Solidaritäts- und Friedensarbeit“ nennt Thomas Renkenberger von den Stuttgarter „Anstiftern“ das Engagement, das dem Vergessen dient und dass seit 2012 nach dem Urteil der Stuttgarter Staatsanwaltschaft noch einmal eine größere Tiefe bekam. „Hoch interessante Kontakte“ gebe es in diesen Tagen in Sant’Anna di Stazzema. Delegationen kämen („wer von offizieller Seite aus Stuttgart kommt, wissen wir noch nicht“), eine Dokumentation werde gedreht.

Mahnwache in Stuttgart

Noch immer ist die Region sehr arm, die Arbeit in den verstreut liegenden Gehöften und in den Olivenhainen schwer. Touristen verirren sich selten in die Gegend, wo selbst ein Mobilfunkgespräch zum Abenteuer wird. Im vergangenen Jahr besuchten Bundespräsident Joachim Gauck und der damalige italienische Staatspräsident Giorgio Napolitano den Ort und gedachten der Opfer.

„Ich glaube, wir Stuttgarter waren in den vergangenen Jahren die ersten, die mit den Einwohnern geredet, sich für ihr Leben interessiert haben“, sagt Peter Grohmann, Mitinitiator des Projektes Die Anstifter. Üblicherweise seien „Erinnerungs-Busse“ vorgefahren, hätten Kränze abgelegt und nach der nächsten Trattoria gefragt. „Sehr berührt“ waren deshalb Enrico Pieri und Enio Manchini, als sie 2013 im Theaterhaus den Stuttgarter Friedenspreis erhalten haben.

Auch in Stuttgart wird an diesem Dienstag der Opfer von Sant’Anna di Stazzema gedacht – mit einer Mahnwache am Schlossplatz von 12.30 bis 14.30 Uhr. Die Arbeit in Sant’Anna geht weiter. Als nächstes wird die örtliche Kapelle restauriert.