In den Rhätsandstein auf Erika Härtlings Grab sind ein Gedicht und eine Widmung ihres Sohnes Peter eingraviert. Foto:  

Lange suchte Peter Härtling vergeblich das Grab seiner Mutter Erika in Nürtingen. Am 13. Mai, acht Wochen vor seinem Tod, hat er es endlich besuchen können. Die Grabstätte erinnert auch an das Schicksal von Millionen anderer Flüchtlingsfrauen.

Nürtingen - Von Krankheit gezeichnet, ist Peter Härtling am 13. Mai dieses Jahres ein letztes Mal auf dem alten Friedhof in Nürtingen gewesen. Bereits im Rollstuhl sitzend, nahm der Schriftsteller noch einmal Abschied von seiner Mutter. Erika Härtlings Grab, das lange Zeit als verschollen galt, zieren jetzt zwei Messingtafeln. In die eine ist ein Gedicht, und in die andere eine Widmung ihres Sohnes eingraviert. Letztere erinnert auch an das Schicksal von Millionen von Flüchtlingsfrauen, sie ist angesichts weltweiter Kriege und Flüchtlingsbewegungen aktueller denn je.

„Dem Andenken an Erika Härtling (1911-1946) und in Gedanken bei den ungezählten Flüchtlingsfrauen zweier Jahrhunderte“, steht im Schriftbild von Peter Härtlings Schreibmaschine auf der Platte zu lesen. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs war Erika Härtling mit Peter und der jüngeren Schwester Lore vor der heranrückenden Roten Armee geflohen. Die Odyssee führte die Familie – der Vater starb in sowjetischer Gefangenschaft – von Mähren zunächst ins niederösterreichische Zwettl. Anfang 1946 kamen die Härtlings in Nürtingen an. Im Oktober desselben Jahres nahm sich die Mutter, die noch in Zwettl von einem russischen Offizier vergewaltigt worden war, das Leben.

Kein Grabkreuz für die Selbstmörderin

„Als Selbstmörderin lag meine Mutter am Rand des Friedhofs, einzeln, und sie bekam kein Grabkreuz. Wir Kinder haben das Grab allein dadurch erkannt, dass dort ein Fliederbaum wuchs“, sagte Peter Härtling vor rund zwei Jahren in einem Interview mit dem evangelischen Magazin „chrismon“. Anfang der 1950er-Jahre wurde der Friedhof aufgegeben, 1954 verließ Härtling Nürtingen. Der Flieder fiel der Säge zum Opfer, das Grab wurde von Gras überwachsen und verschwand so. Vergeblich bemühte sich der preisgekrönte Autor von Büchern wie „Ben liebt Anna“, „Das war der Hirbel“ oder „Hölderlin“ es wiederzuentdecken.

Seinem Schmerz verlieh Härtling in dem 1977 erschienenen Gedicht „Der alte Friedhof in Nürtingen“ Ausdruck, das nun auch auf einer der Gedenktafeln steht: „Vor einundreißig Jahren stand da noch ein alter Fliederbaum. Als Kind bin ich die Wege oft gegangen, lernte die Toten beim Namen und dachte mir Geschichten für ihr Leben aus. Dann zog ich fort. Der Fliederbaum verschwand. Der Friedhof werde, so heißt es, nun planiert. Da ruhn die Toten schon zu lang; so viele Jahre, meinen die Planeure, hält die Trauer nicht.“

Neue Gedenkkultur holt Oper aus der Anonymität

Planiert wurde der alte Friedhof entlang der Stuttgarter Straße nicht. Vor einigen Jahren machten sich die Stadt und der Schwäbische Heimatbund über die künftige Nutzung der parkähnlichen Anlage Gedanken. Ein Ziel war es, eine umfassende Erinnerungskultur zu etablieren. Zwar gab es bis dato Monumente für gefallene Soldaten und zudem eine von Fritz Ruoff gestaltete Stele für die – auch zivilen – Opfer des Zweiten Weltkriegs. Die Gräber von ehemaligen Zwangsarbeitern, die in Nürtingen beerdigt sind, waren indessen anonym. Zusammen mit der Gedenkinitiative für die Opfer und Leidtragenden des Nationalsozialismus erhielten die „Russengräber“ dann die Namen der dort Bestatteten.

Im Zuge der „Russengräber“-Recherchen wurde auch die Lage von Erika Härtlings Grab ausfindig gemacht. Es war dann der Verein Hölderlin-Nürtingen, der sich dafür einsetzte, die letzte Ruhestätte von Peter Härtlings Mutter auf eine würdige Art zu kennzeichnen und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Bereits Ende 2015 war das Grab in Absprache mit der Familie Härtling und in Abstimmung mit der Stadt Nürtingen in seinem jetzigen Zustand wiederhergestellt. Laut der Vorsitzenden des Hölderlinvereins, Ingrid Dolde, sollte das Grab der Öffentlichkeit aber erst vorgestellt werden, nachdem Peter Härtling es besucht haben würde.

Der gefällte alte Flieder ist durch einen jungen ersetzt worden

Aufgrund seines Gesundheitszustands war dies erst am 13. Mai möglich. Sich von seiner Mutter noch einmal zu verabschieden, dazu blieb dem Autor, der in seinem autobiografischen Roman „Herzwand“ den Verlust der Mutter und die Auswirkungen der Nachkriegsgeschichte auf sein Leben schildert, noch Zeit. Um ihr Grab den Bürgern vorzustellen, reichte sie nicht. Kurz vor seinem Geburtstag – am 13. November wäre Härtling 84 geworden – ist dies nun geschehen. Rechts neben dem Grab ist ein junger Flieder gepflanzt worden. Er kann einmal zur Orientierung dienen, so wie damals, vor 70 Jahren.