Dicht gedrängt stehen die 330 Tonfiguren, die an die in Grafeneck getöteten Diakonie-Bewohner erinnern Foto: Gottfried Stoppel

330 Bewohner der Diakonie Stetten sind 1940 in Grafeneck ermordet worden. Der Künstler Jochen Meyder hat sie in Ton geformt – nun findet das Kunstwerk einen Platz im Foyer des Gesundheitszentrums in Kernen.

Kernen - Für Jochen Meyder ist es ein tägliches Ritual: Jeden Morgen nimmt der in Münsingen lebende Künstler etwas Ton zur Hand und formt daraus drei Figuren. Knapp 20 Zentimeter groß sind die Terrakottamenschen, denen Meyder individuelle Gesichtszüge gibt. Eigentlich, so sagt er, schauten ihn die Gesichter aus dem noch ungeformten Ton heraus an und er müsse sie dann mit den Händen gestalten.

„Grafeneck 10 654“ nennt der gebürtige Allgäuer das Projekt, bei dem er mithilfe der Tonfiguren all jenen Menschen ein Gesicht geben will, die im Jahr 1940 bei der Vernichtungsaktion „T 4" in Grafeneck auf der Schwäbischen Alb ermordet worden sind.

Allein 330 der insgesamt 10 654 Getöteten lebten in der damaligen Anstalt Stetten. Immer wieder fuhren dort graue Busse auf den Hof und nahmen Bewohner der Einrichtung mit. Zum Beispiel Helene Krötz, deren Angehörige wenig später die Nachricht erhielten, die 32-Jährige sei an Wundrose erkrankt und durch eine Blutvergiftung gestorben. „Wir können nur erahnen, was die Opfer durchmachen mussten“, sagte Rainer Hinzen, der Vorstandvorsitzende der Diakonie Stetten, am Mittwoch bei einer Feierstunde. Deren Anlass war, dass 330 der von Jochen Meyder geschaffenen Tonfiguren künftig im Foyer des Gesundheitszentrums Kernen stehen und an die von den Nazis getöteten Diakonie-Bewohner erinnern.

Exkursionen nach Grafeneck als fester Programmpunkt

Dass Helene Krötz und die anderen Opfer nun zumindest symbolisch zurückgekehrt sind und nicht in Vergessenheit geraten, das ist einigen heutigen Bewohnern der Diakonie Stetten zu verdanken. Vor gut einem Jahr haben sie im Rahmen einer Fortbildung erstmals über die Euthanasie-Verbrechen geforscht, mit der Kursleiterin Christa Rommel in Archiven gestöbert, eine Exkursion in die Gedenkstätte Grafeneck unternommen und als krönenden Abschluss ein Buch zusammengestellt, das die schrecklichen Geschehnisse in Stetten und Grafeneck thematisiert.

„Ich bin beeindruckt davon, wie Sie sich für Geschichte interessieren und diesen Themen aussetzen. Sie hätten damals auch Opfer sein können“, würdigte Hinzen das Engagement der Gruppe um Christa Rommel. Diese war vor einem Jahr erstaunt über das große Interesse der Diakonie-Bewohner am Seminar: „Es haben sich doppelt so viele angemeldet, wie mitmachen konnten.“ Die Exkursionen zur Gedenkstätte seien nun ein fester Bestandteil des Fortbildungsprogramms der Diakonie.

330 Figuren nach Kernen geholt

Grafeneck ist seit etwa einem Jahr zur „barrierefreien Gedenkstätte“ umgestaltet und bietet seither Führungen in leichter Sprache und einen Audioguide für Menschen, die nicht oder nur schlecht lesen können. Zum pädagogischen-didaktischen Konzept gehöre auch, Geschichte an konkreten Orten und Einzelbiografien wie der von Helene Krötz festzumachen, erzählt die Historikerin Franka Rößner, die das Projekt betreut hat. Jeder zweite Bewohner einer Klinik oder eines Heims der Behindertenhilfe in Baden-Württemberg im Jahr 1940 sei in Grafeneck umgebracht worden. Eine unvorstellbare Zahl, sagt Jochen Meyder, der mit seinen Figuren einen Weg gefunden hat, um das Unvorstellbare irgendwie vorstellbar zu machen.

Bei ihrem Besuch in Grafeneck entdeckten die Diakonie-Bewohner die dort ausgestellten Tonfiguren – und beschlossen, 330 davon heimzuholen. Bei Jochen Meyder haben die Diakonie-Bewohner mit ihrem Wunsch offene Türen eingerannt, schließlich hatte er die Idee, dass Besucher der Gedenkstätte als Paten fungieren und eine Figur nach Hause mitnehmen können – zusammen mit der Aufgabe, sich „für ein friedliches Miteinander einzusetzen“, wie Meyder betont. Auch ihn wird Grafeneck noch einige Zeit beschäftigen: rund 2500 Figuren warten noch darauf, dass Jochen Meyder ihnen ihr Gesicht gibt.

Vom Schloss zur Vernichtungsstätte

Buchprojekt
Vor rund einem Jahr haben Bewohner der Diakonie Stetten das Buch „Geschichte mal anders“ gemacht. Darin beleuchten sie die Vergangenheit von Grafeneck und Schicksale von Diakoniebewohnern, die dort ermordet wurden.

Grafeneck
Herzog Carl Eugen nutzte das Schloss Grafeneck bei Gomadingen (Kreis Reutlingen) einst als Sommerresidenz. Von 1928 an gehörte es der Samariterstiftung, die es in ein Behindertenheim umwandelte. Rund zehn Jahre später wurde Grafeneck für „Zwecke des Reichs“ beschlagnahmt.

Mordaktion
Im Januar 1940 begann dort mit der Aktion „T4“ die systematische Ermordung von Menschen aus Krankenanstalten und Heimen in Baden-Württemberg, Bayern, Hessen und Nordrhein-Westfalen. Innerhalb eines Jahres wurden 10 654 Menschen mit geistigen Behinderungen oder psychischen Erkrankungen ermordet. Darunter waren 330 Menschen, die zuvor in der Anstalt Stetten gelebt hatten.

Gedenkstätte
Nach dem Krieg wurde Grafeneck an die Samariterstiftung zurückgegeben. Erst im Jahr 1990 entstand eine Kapelle als Gedenkort. Seit dem Jahr 2005 ergänzt ein Dokumentationszentrum die Gedenkstätte.