Ein Gedenken ohne Beispiel: Corona macht es nötig. Foto: AFP/Hannibal Hanscke

Das Coronavirus macht ein großes Gedenken zum Kriegsende unmöglich. Der Bundespräsident sieht darin auch eine Mahnung zum Zusammenhalt der europäischen Staaten.

Berlin - Ganz leer ist die Wiese vor dem Reichstag am Morgen des 8. Mai. Hier, wo sich sonst ameisenstraßenhaft von morgens bis abends die Touristen zwischen Brandenburger Tor und Parlament entlangschieben, ist es so merkwürdig still wie seit Wochen, auch wenn der Tiergarten mit seinem knalligen Maigrün lockt.

Überall weht die bundesrepublikanische Flagge – für einen Staatsakt, das höchste Zeremoniell, das dem Land zur Verfügung steht. Erst einmal zuvor, 1995, hat es einen Staatsakt zum Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkrieges gegeben. Zehn Jahre zuvor hatte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker eine Formulierung geprägt, die nahezu bis in die Gegenwart Debattenstoff geboten hat: Weizsäcker nannte den 8. Mai den „Tag der Befreiung“ von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.

Jeder feiert für sich allein

Hier auf der Wiese hätten an diesem Freitag eigentlich 1600 Stühle stehen sollen – für Gäste, darunter vor allem auch 500 Jugendliche aus Europa, Israel und dem Nahen Osten. Hier wollte Weizsäckers Nachfolger Frank Walter Steinmeier an diesem Tag auch darüber sprechen, wie das damals befreite Deutschland aus einer ziemlich einsamen, verlorenen Position heraus zurückgekommen ist: versehen mit der Verantwortung, aus diesem Befreitwordensein ein „Nie Wieder“ für die Zukunft zu machen, mitten in der internationalen Gemeinschaft.

Nun aber wird dieser Staatsakt zu einer unendlich einsamen Aufführung, zum Abbild der Auswirkungen der Pandemie, die Europa prägen: Jeder Staat feiert für sich, ohne Gäste, nicht einmal die eigenen Bürger sind zu sehen. Zwölf mal schlägt die Glocke vom Carillon im Großen Tiergarten herüber bis zum Boulevard Unter den Linden.

Fünf Stühle in Berlins leerer Mitte

Kanzlerin Angela Merkel, der Bundespräsident, Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, Bundesratspräsident Dietmar Woidke und der Verfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle kommen aus dem harten Maisonnenlicht in die Dunkelheit der Neuen Wache. Nichts an den Gesten dieses Gedenkens gleicht den üblichen Bildern.

Als der Bundespräsident ans Rednerpult tritt, sitzen die vier anderen Teilnehmer der Zeremonie auf Stühlen, meterweit voneinander entfernt. Vier Mal kürzer als ursprünglich für diesen Tag geplant muss die Rede sein, Konzentration aufs Wesentliche ist gefragt. Was Steinmeier als die wesentliche Botschaft seiner Amtszeit betrachtet, hat er klar gemacht – zuletzt am Beginn dieses Gedenkjahres in der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, wo er als erstes deutschen Staatsoberhaupt reden durfte: die Verteidigung der Demokratie.

„Damals wurden wir befreit“, sagt Steinmeier. „Heute müssen wir uns selbst befreien.“ Von einer passiven Rolle, in der das Land von außen neu geordnet wurde, seien die Deutschen zu einem Volk geworden, das sich seiner Vergangenheit gestellt habe. „Diese Jahrzehnte des Ringens mit unserer Geschichte waren Jahrzehnte, in denen die Demokratie in Deutschland reifen konnte.“ Und mit sehr deutlichen Worten greift der Bundespräsident all jene an, die einen Schlussstrich wollen: Wer dies fordere, der „entwertet auch all das Gute, das wir seither errungen haben - der verleugnet sogar den Wesenskern unserer Demokratie“. Und weiter: „Nicht das Erinnern ist eine Last, sondern das Nichterinnern wird zur Last“.

Mahnung an geeintes Europa

Hier knüpft die Rede direkt an die von Yad Vashem an – in der Steinmeier „die alten bösen Geister im neuen Gewand“ beschworen hatte. Es gelte sich zu befreien von der Versuchung eines neuen Nationalismus, Abschottung und auch von Fremdenfeindlichkeit und Demokratieverachtung. „Wir denken an diesem 8. Mai auch an die Opfer von Hanau, von Halle und Kassel.“

Bei Kriegsende sei Deutschland „militärisch besiegt, politisch und wirtschaftlich am Boden, moralisch zerrüttet“ gewesen. „Wir hatten uns die Welt zum Feind gemacht.“ 75 Jahre später müsse Deutschland zwar in der Pandemie alleine gedenken. Aber die glücklichste Botschaft dieses Tages sei, dass die Deutschen in einer starken, gefestigten Demokratie inmitten eines friedlichen Europas lebten. „Ja, wir Deutsche dürfen heute sagen: Der Tag der Befreiung ist ein Tag der Dankbarkeit.“

In der Zeit der Pandemie kristallisiert sich manche Erkenntnis klarer heraus als zuvor. Und so mahnt Steinmeier in Europa zum Zusammenhalt: Der Schwur des „Nie wieder!“ müsse vor allem ein „Nie wieder allein!“ bedeuten: „Wenn wir Europa, auch in und nach dieser Pandemie, nicht zusammenhalten, dann erweisen wir uns des 8. Mai nicht als würdig.“