Der Gasthof Ritter zur NS-Zeit: Dort war das Treffen von OB Strölin und dem General. Foto: Archiv Albert Raff

Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs – am 22. April 1945 – gab es im Gasthaus Ritter in Stuttgart-Degerloch ein bedeutsames Zusammentreffen. Es war ein schwerer Gang für den damaligen Oberbürgermeister Karl Strölin, der dort Unausweichliches vollziehen musste.

Degerloch - Sonntag, 22. April 1945, 11 Uhr: An der Degerlocher Epplestraße spielt sich Historisches ab. Der Stuttgarter Oberbürgermeister Karl Strölintrifft sich im Hotel Ritter mit dem französischen General Jacques F. Schwartz. Die beiden sind allein. Sie wechseln wenige Worte, das Treffen verläuft einvernehmlich und dauert keine zehn Minuten. Sein Ergebnis lässt keine Fragen offen: Mehr als zwei Wochen vor dem offiziellen Kriegsende ist Stuttgart in französischer Hand.

„Rund 20 Stunden nach Besetzung Stuttgarts trat Strölin seinen unangenehmen Weg an“, schreibt der Historiker Walter Nachtmann in seinem 1995 erschienenen Buch „Karl Strölin – Stuttgarter Oberbürgermeister im ‚Führerstaat‘“. Dieser Weg führt ihn von seiner Dienststelle an der Schönleinstraße in Stuttgart-Ost in den Ritter, wo er das Unausweichliche vollzieht. Die historische Übergabe der Stadt in Degerloch ist weder für die Franzosen noch für die Nationalsozialisten ein Grund für staatstragende Zeremonien. „Man darf sich das nicht als großen Akt vorstellen“, sagt Helmut Doka von der Geschichtswerkstatt Degerloch. Strölin, den Doka als eine Mischung aus überzeugtem Nazi und Technokrat beschreibt, war damit beschäftigt, seine eigene Haut zu retten.

Der Franzose hat keine Zeit für Geplänkel

Sein Gegenüber Jacques Schwartz wiederum hatte keine Zeit für Geplänkel. „Schwartz hatte anderes zu tun, als Berichte anzufertigen. Er war auf dem Weg die Weinsteige runter in den Kessel“, so der Historiker. Dort galt es, das Zentrum der Stadt für die Besatzer abzusichern.

Eigentlich hatten die Amerikaner die Stadt für sich reklamiert, die Demarkationslinie zwischen französischer und amerikanischer Besatzungszone sollte die A 8 sein. „Aber die Franzosen haben sich nicht daran gehalten, sie wollten Stuttgart als Beute einstecken“, erklärt Helmut Doka. Der Präsident der provisorischen französischen Regierung, Charles De Gaulle, drängte seinen Oberbefehlshaber Schwartz persönlich dazu, die Stadt rasch einzunehmen, wie Walter Nachtmann schreibt.

Bereits am 20. April waren Truppen der französischen Armee in die Fildervororte vorgerückt, bis zum Nachmittag des 21. April sprengten sie alle Brücken im Stadtgebiet in die Luft und besetzten die Stadtbezirke links des Neckars, während die Amerikaner von Osten heranrückten.

Viele Degerlocher sahen erstmals Menschen schwarzer Hautfarbe

Die offizielle Übergabe Stuttgarts im Ritter dürften die Degerlocher kaum zur Kenntnis genommen haben. Nur 266 000 Menschen lebten im Frühjahr 1945 überhaupt noch in der ausgebombten Stadt, viele waren bereits evakuiert, so wie Helmut Doka, der während der letzten Kriegswochen im Remstal ausharrte. Für die Zurückgebliebenen ging es ums Überleben. Sie hofften, dass sich die Racheakte der Besatzer in Grenzen halten würden. „Es wird um eine ritterliche Behandlung der Bevölkerung gebeten“, hieß einer von fünf Punkten, die Karl Strölin dem alliierten Oberkommando in einer Erklärung hatte übermitteln lassen. Der erste der Punkte nahm das Treffen im Ritter voraus: „Die Bevölkerung mit dem Oberbürgermeister sind zur Übergabe bereit“, heißt es da. Die meisten Degerlocher sahen damals erstmals Menschen schwarzer oder brauner Hautfarbe. Denn viele Soldaten der französischen Armee kamen aus den Maghreb-Staaten, die damals noch zum französischen Kolonialreich gehörten. „Die Leute hatten Angst vor der 3. algerischen Division“, erzählt Doka.

Außerdem seien zahlreiche Marokkaner mit in die Schwabenmetropole gekommen. Trotz ihrer erfolgreichen Einnahme weiter Teile der Stadt verweilten die Franzosen nicht lange in Stuttgart. Schon im Juli übernahmen die Amerikaner das Kommando – und damit auch den Gasthof Ritter. „Der Ritter wurde ab Mai die erste Kommandozentrale der Amerikaner, sie sind dort sicher zwei Jahre geblieben“, sagt Helmut Doka, der selbst nicht weit entfernt an der Felix-Dahn-Straße wohnte. Erst danach verlässt der Ritter die Bühne des Weltgeschehens und wird wieder zum Wirtshaus, was er bis heute ist.