Viele Firmen haben 2021 auf fallende Preise gesetzt und keine neuen Verträge für Gas und Strom abgeschlossen. Jetzt ist Strom vier Mal so teuer wie Anfang 2021, und Gas kostet das Dreifache.
Wolfgang Hahn hat Stellenanzeigen geschaltet, weil er jetzt dringend mehr Personal braucht. Denn der Rat seiner Beratungsfirma Energie Consulting GmbH (ECG) im baden-württembergischen Kehl am Rhein ist gefragt wie nie. „Bei uns meldet sich derzeit jeden Tag knapp eine Handvoll Unternehmen, mit denen wir bislang keinen Kontakt hatten“, erzählt der ECG-Chef. Auch einige der rund 2500 Bestandskunden, die die vor 35 Jahren gegründete Firma zum größten unabhängigen Energieberater Europas machen, haben wegen explodierter Strom- und Gaspreise Gesprächsbedarf.
Was sollen wir jetzt machen? Das ist die Frage, die die ECG-Berater gerade permanent hören. „Viele Firmen, die um Rat suchen, haben noch keine Energieverträge für die Zeit bis Jahresende oder gar für 2023 und 2024 abgeschlossen“, erklärt Hahn.
Wer jetzt einkaufen muss, steht vor einem Dilemma
Das deckt sich mit einer aktuellen Umfrage des Deutschen Industrie-und Handelskammertages (DIHK). Demnach hat nicht einmal jede zweite deutsche Firma ihre Strom- und Gasversorgung zumindest bis Ende 2022 unter Dach und Fach. Wer das jetzt nachholen muss, steht vor einem Dilemma. Soll man hoffen, dass bald Frieden herrscht in der Ukraine und Energiepreise wieder sinken, oder besteht die Gefahr, dass der Gashahn zwischen Russland und der EU von einer Seite zugedreht wird?
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Hahn hat recht klare Vorstellungen von dem, was dann passieren dürfte. „Wird der Gashahn von einer Seite zugedreht, halte ich eine nochmalige Verdoppelung der Preise für realistisch“, schätzt der Experte. Der Preis steigt schon seit 2021. Anfang 2021 hat eine Megawattstunde (MWh) Gas in Deutschland noch unter 20 Euro gekostet. Dann wurde es im Jahresverlauf immer teurer, bis im Dezember 2021 Spitzen von bis zu 140 Euro je MWh erreicht waren. Anfang 2022 ging es erst mal nach unten – bis zum 24. Februar dem Tag des Angriffs Russlands auf die Ukraine.
Fehlkalkulation vieler Firmen
„In den vergangenen Tagen hatten wir bei Gas wieder leichte Preisrückgänge auf 65 Euro je Megawattstunde“, sagt Hahn. Beim Industriestrom ist die Entwicklung ähnlich. Aus rund 50 Euro je Megawattstunde Anfang 2021 sind vorigen Dezember Spitzenwerte von 400 Euro und aktuell gut 200 Euro geworden.
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„Im Jahresverlauf 2021 haben viele Firmen auf bald wieder sinkende Energiepreise gesetzt, was ein Fehler war“, beschreibt Hahn die Fehlkalkulation. Wer jetzt als industrieller Großkunde einen neuen Strom- oder Gasvertrag braucht, zahlt im Jahresvergleich das Vier- beziehungsweise gut Dreifache, rechnet er vor. Betroffen seien Firmenkunden jeder Branche und Größe mit Ausnahme absoluter Großabnehmer wie der Chemieindustrie, die in der Regel langfristige Verträge mit bis zu drei Jahren Laufzeit geschlossen haben.
Sollen deutsche Firmen jetzt pokern?
„Es ist noch keine Panik, aber viele Unternehmen sind tief besorgt“, beschreibt der Experte die Stimmung in der deutschen Unternehmenslandschaft. Wenn andererseits in der Ukraine die Waffen schweigen, würden die Energiepreise rasch wieder sinken. „Ich glaube nicht, dass wir in absehbarer Zeit wieder ein Niveau wie Anfang 2021 sehen“, stellt Hahn klar. Er erwartet bei einem Friedensvertrag zwischen Russland und der Ukraine ein Gaspreisniveau von etwa 40 Euro je Megawattstunde. Das wäre zwar immer noch das Doppelte verglichen mit Anfang 2021, aber auch gut die Hälfte weniger als aktuell.
Sollen deutsche Firmen jetzt wieder pokern und auf Frieden hoffen oder besser mit dem Schlimmsten rechnen? „Wir raten seit jeher, die Energiebeschaffung einer Firma auf mehrere Tranchen zu verteilen, um so das Preisrisiko zu streuen“, sagt Hahn. Er meint damit, nicht den ganzen Jahresbedarf des Unternehmens zu einem einzigen Stichtag zu kaufen, sondern auf mehrere Termine zu verteilen. Das gelte auch in der jetzigen Lage.
Energiesparen rechnet sich jetzt noch mehr
Zudem gebe es oft gute Sparmöglichkeiten. Hahn weiß auch von vielen Firmen, die bislang unverwirklichte Pläne für Solaranlagen auf dem Firmengelände oder Wärmedämmung in ihren Schubladen haben. „Herausholen und verwirklichen“, rät der Energieberater. Auch wenn Solarpaneele derzeit monatelange Lieferzeiten hätten und man ähnlich lange auf Handwerksbetriebe warten müsse. Denn Energiesparen und selbst produzieren rechne sich derzeit gerade auch für Firmen wie nie.
Energieversorger können Firmen auch kündigen
Kündigungen
Die Preise sind nicht das alleinige Problem von Unternehmen bei der Energiebeschaffung in der aktuellen Lage. Auch weitere Pleiten von Energieversorgern und Händlern, die es schon im vorigen Jahr vereinzelt gegeben hat, drohen durch die vom Krieg in der Ukraine ausgelösten Verwerfungen auf den Märkten. Zudem können Energieversorger ihren Sondervertragskunden, wie Firmen im Fachjargon heißen, relativ unvermittelt kündigen, wenn die eigene Rechnung nicht mehr aufgeht. ECG weiß von Fällen, wo das vorigen Dezember für 2022 geschehen ist.
Flüssiggas
Wenn der Gashahn zwischen Russland und der EU zugedreht wird, haben Deutschland und die hiesige Industrie zudem schlechte Karten, überhaupt noch an ausreichend Gas zu kommen, sagen Experten. Deutschland hat bislang noch keinen Flüssiggasterminal (LNG) wie viele andere EU-Länder. Das europäische Gasnetz ist aber nicht für Transport über lange Strecken etwa von Spanien mit vielen LNG-Terminals nach Deutschland ausgelegt. Die Möglichkeit solche Terminals anderer Nationen als Alternative zu russischem Gas zu nutzen, ist von daher beschränkt.