Das Recht auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule wird eine Großreform. 2026 soll es umgesetzt sein. Schon jetzt ist klar, dass die Zeit für die Vorbereitung knapp wird.
Stuttgart - Eigentlich hat die grün-schwarze Koalition für die neue Wahlperiode in Baden-Württemberg große Schulstrukturreformen ausgeklammert, weil die Vorstellungen von CDU und Grünen dafür zu weit auseinanderliegen. Aber nach dem Motto „Unverhofft kommt oft“ spült die Bund-Länder-Einigung zum Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule der Landesregierung nun ein ziemlich umfassendes Reformvorhaben auf die Agenda, das in den nächsten fünf Jahren umzusetzen ist.
Was ist das Ziel?
Um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und die Betreuungssituation von Kindern zu verbessern, soll von 2026 an, ein Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für alle Grundschüler in Deutschland eingeführt werden. Vier Jahre hintereinander sollen ab dann an alle Erstklässler die Wahl zwischen der klassischen Halb- oder einer um Betreuungszeiten ergänzten Ganztagsschule haben. Vereinbart haben Bund und Länder, dass der Rechtsanspruch eine Unterrichts- und Betreuungszeit von 8 Stunden an fünf Wochentagen gewährleisten soll. Das ist mehr als als die Standards der Kultusministerkonferenz bei bisherigen Ganztagsangeboten verlangen. Außerdem soll die achtstündige Betreuung auch in zehn von 14 unterrichtsfreien Ferienwochen gelten.
Was heißt das für Baden-Württemberg?
Wie alle westdeutschen Flächenländer hat der Südwesten Nachholbedarf bei Ganztagsschul- und Betreuungsplätzen. Das Deutsche Jugendinstitut (DJI) hat vor kurzem eine länderspezifische Bedarfsprognose vorgelegt und dabei Ausbaukorridore skizziert. Danach leben im Land derzeit 398 600 Kinder im Grundschulalter; bis 2029, wenn der Rechtsanspruch vollständig eingeführt sein soll, kommen noch einmal 51 900 Gleichaltrige hinzu. 2019 haben 51 Prozent (knapp 203 000 Jungen und Mädchen) Ganztagsangebote unterschiedlichster Art wahrgenommen. Einen entsprechenden Bedarf signalisiert haben 58 Prozent der Eltern. Hinzu kommen 12 Prozent, die lediglich eine Betreuung über die Mittagszeit benötigen, und 30 Prozent, die gar keinen Platz wollen. Daraus errechnen die Experten des Instituts einen zusätzlichen Ganztagsbedarf im Südwesten von 54 000 bis 76 000 Plätzen bis 2026; das wäre ein Ausbau um 30 bis 43 Prozent. Damit liegt Baden-Württemberg im Mittelfeld. Den größten Nachholbedarf gibt es in Schleswig-Holstein (65 bis 82 Prozent), gefolgt von Bayern (61 bis 78 Prozent).
Wo klafft die größte Lücke?
Der empfindlichste Mangel besteht beim Personal. Das Deutsche Jugendinstitut hat einen Bedarf von 2300 bis 5000 Vollzeitstellen errechnet, um den Rechtsanspruch umzusetzen. Wegen der vielen Teilzeitarbeitenden werden laut dem Institut tatsächlich aber 3900 bis 8400 Fachkräfte gebraucht. Das ist das größte Nadelöhr für den Ausbau. „Die Lehrkraft, die wir jetzt ausbilden, steht 2026 noch nicht im Klassenzimmer“, heißt es im Kultusministerium. Ähnliches gelte bei etwas kürzeren Ausbildungszeiten auch für Erzieher, wo die Ausbildungskapazitäten seit 2008 bereits verdoppelt worden seien. Aktuell fehlten in den Berufsschulen Lehrkräfte für sozialpädagogische Berufe. „Die Ausgangsbedingungen für die Ausbildung zusätzlicher Fachkräfte nicht günstig.“
Wie groß ist der Bedarf wirklich?
Die Frage ist schwer zu beantworten. Das Deutsche Jugendinstitut, das seit einiger Zeit jährlich repräsentative Befragungen zum Ganztagsbedarf macht, berichtet von stark schwankenden Zahlen in jedem Bundesland. Nicht einmal ein klarer Trend zu einem steigenden oder sinkenden Ganztagsangebot sei bei den allermeisten Ländern erkennbar. Zudem äußert ein großer Teil der befragten Eltern gar keinen Bedarf an Betreuung.
In Baden-Württemberg waren das 2018 39 und in den beiden Folgejahren 42 beziehungsweise 30 Prozent. Im Südwesten kommt noch etwas hinzu: Als die grün-rote Landesregierung die gesetzliche Ganztagsgrundschule 2014 eingeführt hat, war die Erwartung, dass bis 2023 siebzig Prozent aller 2300 Grundschulen mit fünfzig Prozent der Schüler im Südwesten auf Ganztagsbetrieb umgestellt haben würden. Tatsächlich werden es aber nur gut zwanzig Prozent sein. Zugleich nutzt die Hälfte der Schüler irgendeine der vielen Betreuungsmöglichkeiten, die es im Land gibt – von der gesetzlichen Ganztagsgrundschule über die verlässliche Grundschule bis zu Horten. „Viele Eltern wünschen sich mehr Flexibilität bei der Ganztagsschule – und Flexibilität ist eben ein Markenzeichen der kommunalen Schulbetreuung“, sagt der Bildungsdezernent des Städtetags Norbert Brugger dazu. Wie viele Eltern die Acht-Stunden-Betreuung tatsächlich nutzen, ist schwer abzuschätzen.
Welche Fragen stellen sich?
Ob und wie bestehende Angebote weiterentwickelt werden können, um den Rechtsanspruch abzudecken, ist laut Einschätzung des DJI eine Schlüsselfrage. Das Kultusministerium will zeitnah noch in diesem Jahr die Gespräche mit den kommunalen Schulträgern aufnehmen, hieß es auf Anfrage.