Gabriele Nießen ist die neue Frau im Ludwigsburger Rathaus. Foto: privat

An diesem Freitag tritt Gabriele Nießen ihr Amt als Bürgermeisterin in Ludwigsburg an. Irritationen provoziert jetzt ein Zeitungsartikel, der sich stellenweise wie eine Abrechnung liest – und die Frage aufwirft: Ist die 54-Jährige eine heimliche Grüne und Autogegnerin?

Ludwigsburg - Man kennt das. Wenn Unternehmen nach neuen Mitarbeitern suchen, gucken die Personalentscheider heutzutage nicht mehr nur in die Bewerbungsmappe, sondern auch ins Internet. Wer sich auf seinem öffentlichen Facebook-Profil halb nackt oder voll besoffen präsentiert, ist womöglich ungeeignet als Kommunikationsdirektor bei Bosch oder Marketingleiter bei Porsche. Bei Rockmusikern oder Boxenludern ist das okay, aber für die meisten anderen Berufe sollte man doch zumindest ein Mindestmaß an Seriosität mitbringen. In verschärftem Maß gilt das für Politiker, und insofern hat Gabriele Nießen also alles richtig gemacht. An diesem Donnerstag fährt sie von Oldenburg nach Ludwigsburg, um am Freitag ihr Amt als Bürgermeisterin anzutreten. „Ich freue mich auf die neue Herausforderung“, sagt die 54-Jährige, die mit Vorschusslorbeeren im Gepäck anreist.

Alles, was über Gabriele Nießen im Netz zu finden ist, wirkt seriös und sympathisch. Auf den meisten Fotos lächelt sie. In den meisten Zeitungsartikeln, die über sie verfasst wurden, wird sie gelobt. Auch das mag ein Grund gewesen sein, warum der Gemeinderat sie im November zur Leiterin des neu geschaffenen Dezernats Stadtentwicklung und Hochbau wählte.

Die Journalisten meinen es nicht nur gut mit ihr

Zuletzt arbeitete Nießen sieben Jahre als Baudezernentin in Oldenburg, sie bringt also viel Erfahrung mit. Jetzt aber, pünktlich zum Beginn in Ludwigsburg, ist in der „Nordwest-Zeitung“, einem in Niedersachsen erscheinenden Regionalblatt, ein sonderbarer Text erschienen. Schon die Überschrift deutet an, dass die zwei Journalisten, die ihn verfasst haben, es nicht nur gut mit Nießen meinen: „Die Unvollendete nimmt Abschied“.

Danach wird in fast 200 Zeilen Nießens Arbeit in Oldenburg bilanziert, und das Merkwürdige daran ist: Stellenweise liest sich das wie eine bitterböse Abrechnung, an anderen Stellen wie eine kleine Hommage. Für die Stadträte in Ludwigsburg dürfte das Stück jedenfalls kaum geeignet sein, schon vor der ersten Ausschusssitzung mehr über den Charakter der neuen starken Frau im Rathaus zu erfahren – dafür ist der Text schlicht zu widersprüchlich.

Bekannt und bis nach Ludwigsburg durchgedrungen war bisher lediglich, dass das Verhältnis zwischen Nießen und dem Oldenburger Oberbürgermeister belastet war. Der Rathauschef hatte sie nicht für eine zweite Amtszeit vorgeschlagen, weshalb Nießen sich einen neuen Job suchen musste. Über die Gründe für das Zerwürfnis wird in der „Nordwest-Zeitung“ viel gemutmaßt, und gegenüber unserer Zeitung bleibt Nießen vage: „Der OB hat wechselnde Begründungen benutzt, die für mich nicht nachvollziehbar waren“, sagt sie, um dann hinzuzufügen, dass sie keine Sorgen habe, dass ihr im neuen Job Ähnliches widerfahren könne. Sie habe den Ludwigsburger Oberbürgermeister Werner Spec bei den bisherigen Treffen „als sehr angenehmen, innovativen und zukunftsgerichteten Menschen kennengelernt“.

„Gabriele Nießen konnte zickig sein“

Ob das so bleibt, wird die Zeit zeigen – und das gilt ebenso für alles Weitere, was in der „Nordwest-Zeitung“ angesprochen wird. So heißt es in dem Artikel, die Bürgermeisterin sei bisweilen belehrend aufgetreten, habe nicht immer souverän gewirkt, das Ganze gipfelt in dem Satz: „Gabriele Nießen konnte zickig sein.“ Woanders steht dann, Nießen sei bei ihren Mitarbeitern äußerst beliebt gewesen. Sie sei „die beste Dezernentin, die wir je hatten“, sollen sie ihr zum Abschied mit auf den Weg gegeben haben. Auch bei den Parteien im Oldenburger Gemeinderat kam sie offenbar gut an, denn diese hätten „in seltener Einmütigkeit“ hinter ihr gestanden und sich mit ihr solidarisiert. Wieder woanders steht, sie habe in Oldenburg wenig bewegt und gehe als Unvollendete. Nießen selbst lässt all das kalt. Sie halte sich für loyal, sachlich und souverän, aber auch für durchsetzungsstark. „Bei einem Mann heißt es dann: Er ist entschlossen. Während eine Frau mit den gleichen Eigenschaften als Zicke bezeichnet wird. Ich dachte eigentlich, dass wir über so etwas inzwischen hinweg sind.“

Erhellend wird der Zeitungstext aber doch noch, und zwar dann, wenn er sich nicht mehr Nießens Charakter, sondern ihrer politischen Haltung widmet. Ein Grund für die Spannungen mit dem Oldenburger OB soll gewesen sein, dass Nießen unter anderem den „Handel mit ihrer von Verständnislosigkeit geprägten Haltung gegenüber dem Verkehrsträger Auto verschreckt“ habe. Sie mag keine Autos, soll das wohl heißen – und spätestens da dürften manche in Ludwigsburg hellhörig werden. Schließlich ist die Autolobby hierzulande wesentlich stärker als in Oldenburg, sind die Straßen hier voller, werden die Streits um Parkplätze heftiger ausgetragen als anderswo. Auch von einer „allzu großen Nähe zu den Grünen“ ist in der „Nordwest-Zeitung“ die Rede.

Ist Nießen eine Autogegnerin?

Nießen wiegelt ab. In ihrem Dezernat ist die Stabsstelle Klima und Energie angesiedelt. Sie werde sich demzufolge auch in Ludwigsburg mit Themen beschäftigen, „die bei den Grünen im Vordergrund stehen“. Auch halte sie Klimaschutz für eine zentrale Aufgabe. Das bedeute aber nicht, dass „ich selbst eine Grüne bin“. Ebenso wenig sei sie gegen Autos. „Ich bin lediglich der Überzeugung, dass sich das Mobilitätsverhalten in den nächsten Jahren deutlich verändern wird.“ Künftig werde nicht mehr jeder Erwachsene ein eigenes Auto besitzen, sondern „immer das Verkehrsmittel nutzen, das für die Wegstrecke, die er gerade zurücklegen muss, am besten geeignet ist“. Sie sei also eine Vertreterin einer multimodalen Verkehrsinfrastruktur.

Damit dürfte Nießen tatsächlich auf einer Linie mit Spec und ihrem Bürgermeisterkollegen Michael Ilk liegen, wobei sie für das Thema Verkehr sowieso nur am Rande zuständig sein wird. Ihre Hauptaufgabe in Ludwigsburg sieht Nießen darin, für mehr preisgünstigen Wohnraum zu sorgen – und falls ihr das gelingt, wird sie bei der Bevölkerung in jedem Fall viele Pluspunkte sammeln.

Und wer weiß, vielleicht geht es dann auf der politischen Karriereleiter noch ein bisschen weiter nach oben für Gabriele Nießen. In der „Nordwest-Zeitung“ wird darüber spekuliert, dass die 54-Jährige im Jahr 2021 bei der Oberbürgermeisterwahl in Oldenburg antreten könnte. Nießen selbst dementiert, wenn auch nur halbherzig. „Ich konzentriere mich jetzt voll auf Ludwigsburg“, sagt sie. „Etwas anderes steht nicht an.“