Leroy Sané, Thomas Müller, Timo Werner (v. li.) und die anderen Nationalspieler machen sich laut Bierhoff auch Gedanken über die Menschenrechtslage in Katar. Foto: imago//Ralf Poller

Das deutsche Team setzt sich vor den Partien in der Nations League gegen Ungarn und England mit der heiklen Lage um WM-Gastgeber Katar auseinander.

Oliver Bierhoff hat mittlerweile ein halbes Dutzend Fußball-Weltmeisterschaften mitgemacht. 1998 und 2002 noch als Stürmer, seit 2006 als Manager der deutschen Nationalmannschaft. Der 54-Jährige spürt, dass kein Turnier so umstritten war wie die bevorstehende WM in Katar. 62 Tage vor dem Startschuss machte Bierhoff auf dem vom Deutschen Fußballbund (DFB) ausgerichteten Kongress „Sport und Menschenrechte“ deutlich, in welchem Spannungsfeld sich auch die DFB-Auswahl bewegt, die einerseits in der Wüste sportlich eine Aufbruchsstimmung schüren soll, andererseits sich bei heiklen sportpolitischen Fragen nicht einfach wegducken darf.

Katar mit ambitionierten Vereinbarungen, aber an der Umsetzung hakt es

„Das Thema Menschenrechte beschäftigt die Mannschaft. Die Spieler sind alle politisch denkende Menschen“, versicherte der DFB-Direktor im neuen Campus, „aber wir müssen darauf achten, den Spagat zu schaffen: Die vielen Geräusche dürfen nicht dazu führen, dass wir keine Lust mehr am Turnier haben.“ Der Spagat ist auch daran abzulesen, dass einzelne Nationalspieler nach dem Eintreffen im Teamhotel in Gravenbruch für die Nations-League-Gruppenspiele gegen Ungarn (Freitag, 20.45 Uhr/ZDF) in Leipzig und gegen England (Montag, 20.45 Uhr/RTL) in London am Montagnachmittag noch an den nicht-öffentlichen Dialogforen teilnahmen, die die komplexe Katar-Thematik aus verschiedenen Blickwinkeln behandelten.

Präsident Bernd Neuendorf erneuerte am Vormittag bei den Eröffnungsreden seine Kritik, dass Katar zwar seit 2017 für die Arbeitsmigranten Mindestlohn, Arbeitszeiten oder Freizügigkeit vereinbart habe, „aber an der Umsetzung hakt es“. Zwei Punkte liegen dem 61-Jährigen besonders am Herzen. So solle endlich ein „Working Center“ eingerichtet werden, an die sich Arbeiter bei Problemen wenden könnten, und ein Fonds für diejenigen, die beim Bau von WM-Stadien ums Leben kamen oder verletzt wurden. Solche Entschädigungsleistungen seien doch im Menschenrechtskatalog der Fifa geregelt, der Weltverband sollte tunlichst seine „eigenen Grundsätze ernst nehmen und danach leben“, empfahl der DFB-Chef in Richtung Fifa-Präsident Gianni Infantino, der sich meist nur in blumigen Fensterreden zum WM-Gastgeber äußert.

Katar soll auch Angehörige der LGBTIQ+ Gruppen mit offenen Armen empfangen

„Weder bei der Fifa noch bei Katar fehlt es an Geld. Wir vermissen den Willen, das auf den Weg zu bringen“, kritisierte auch Markus Beeko, Generalsekretär Amnesty International Deutschland. Für ihn hat die Fifa viel zu lange gebraucht, sich ums Thema Menschenrechte zu kümmern. Eine Gegenposition nahm der katarische Botschafter Abdulla Bin Mohammed bin Saud Al-Thani ein, der die Möglichkeit bekam, zu den Vorwürfen Stellung zu beziehen. Der Scheich erinnerte daran, dass eine vergleichbare Debatte vor der WM 2018 in Russland nicht stattgefunden habe. Was er sagen könne: „Wir sind nicht perfekt. Es braucht noch Zeit. Es ist eine Reise – und diese Reise hört mit der WM nicht auf.“ Zudem forderte er die erwarteten 1,2 Millionen WM-Touristen auf, in Doha mit den Menschen vor Ort zu sprechen. Dann würde man auch viel Positives erfahren. Zudem verwies der Botschafter darauf, dass einige Verbesserungen bereits auf den Weg gebracht seien, zum anderen sei der Wüstenstaat ja auch vier Jahre lang in der arabischen Welt isoliert worden.

Was das Emirat aber nicht von der Verantwortung entbindet, bei einer Fußball-WM auch Angehörige der LGBTIQ+ Gruppen mit offenen Armen zu empfangen. Dario Minden als 2. Vorsitzender der Fanvereinigung „Unsere Kurve“ wandte sich direkt an den katarischen Botschafter, als der Anhänger von Eintracht Frankfurt öffentlich erklärte, dass er Männer liebe. „Fußball ist für jeden“, verlangte Minden und stellte von Angesicht zu Angesicht klar, dass es nicht das Problem sei, „dass eine WM in ein Land kommt, dass keine Fußballkultur hat“.

Forderung nach 440 Millionen Euro an die Arbeitsmigranten

Das Problem sei die blutige Ausbeutung und zur Verhandlungsmasse verkommene Menschenrechte – „nur weil das Gegenüber genug Geld hat.“ Katar habe „schamlos“ eine WM gekauft und „damit nichts anderes gemacht, was Deutschland vor 20 Jahren“ getan habe. Der Fanvertreter wolle daher keinen Eurozentrismus betreiben („westliche Europäer zeigen auf die arabische Halbinsel – das ist es nicht“), aber das Mindeste sei es, bei künftigen Turniervergaben auf gewisse Mindeststandards zu achten und diesmal auf jegliche WM-Gewinne zu verzichten.

Niemand dürfe sich an einem solchen Turnier in Katar bereichern, das Geld müsse an die entrechteten Arbeitsmigranten gehen. Die Gewerkschaft Bau- und Holzarbeiter Internationale (BHI) forderte konkret die Summe von umgerechnet 440 Millionen Euro, für die doch die Fifa als „der größte Profiteur“ geradestehen solle.

Bierhoff macht Pechvogel Reus Mut

Hoffnung
 DFB-Direktor Oliver Bierhoff sieht keinen Grund, den erneut kurz vor einem Turnier verletzten Fußball-Nationalspieler Marco Reus vorschnell für die WM abzuschreiben. Der BVB-Kapitän zog sich im Derby gegen Schalke offenbar „nur“ eine Außenbandverletzung am Sprunggelenk zu. Eine Teilnahme von Reus an dem am 20. November beginnenden WM-Turnier ist aus Bierhoffs Sicht „schon gut möglich“.

Ambitionen
 Vor den beiden Spiele gegen Ungarn und England hat Bierhoff den Gruppensieg in der Nations League für das deutsche Team als Ziel ausgerufen.