Es ist kompliziert: Das ist der Beziehungsstatus von Ilkay Gündogan und vielen deutschen Fans Foto:  

Die Pfiffe gegen Ilkay Gündogan gefährden nicht nur die Stimmung im deutschen Team, sondern auch denErfolg bei der WM in Russland.

Leverkusen - Nur mal kurz zur Erinnerung. Vor nicht allzu langer Zeit ging es schon mal um die Stimmung im deutschen WM-Kader, die ja im Idealfall eine gute sein soll und von nichts anderem als von Harmonie geprägt. Der Bundestrainer Joachim Löw hatte genau diesen Punkt im Hinterkopf, als er einen gewissen Sandro Wagner aus dem Aufgebot für die WM strich. Sogar schon aus dem vorläufigen, wohlgemerkt. Das Temperament und das große Selbstbewusstsein des Angreifers, das bisweilen mindestens von München bis nach Moskau und zurück reicht, hätten Löw theoretisch einen Strich durch seine Stimmungsrechnung machen können. Also macht Sandro Wagner jetzt Sommerurlaub, während die DFB-Elf kurz vor der Abreise an diesem Dienstag in Richtung Moskau steht, wo am 17. Juni das erste WM-Gruppenspiel gegen Mexiko steigt.

Was würden die Strategen um die Nationalelf nun gerade geben, wenn sie nur diesen etwas aufmüpfigen Wagner, der manchmal eben sagt, dass der beste von allen ist, mit an Bord hätten. Und nicht dieses veritable Problem, das sich in den Tagen vor dem WM-Start zu einem echten Stimmungskiller ausgeweitet hat.

Die Causa Erdogan/Gündogan/Özil ist ein Ballast im Reisegepäck für den DFB-Tross, der schwerer wiegt als jeder Koffer und jede Trikotkiste – vielleicht sogar fast schwerer als das ganze Flugzeug, mit dem die Reisegruppe der Nationalelf am Dienstag von Frankfurt aus abhebt.

Der Wirbel um die Fotos von Mesut Özil und Ilkay Gündogan mit dem umstrittenen türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan wird auch nach vier Wochen nicht kleiner, im Gegenteil: Beim 2:1 im letzten WM-Test in Leverkusen gegen Saudi-Arabien waren die Pfiffe vieler Fans gegen Gündogan sogar noch lauter und ausdauernder als eine Woche zuvor beim 1:2 in Österreich. „Das hat mich schon geschmerzt, weil eine Mannschaft auch davon lebt, dass jeder Spieler unterstützt wird. Wenn ein Nationalspieler ausgepfiffen wird von der Einwechslung über alle Aktionen bis zum Ende, dann gefällt mir das natürlich nicht“, sagte Joachim Löw.

Der Bundestrainer muss nun aufgrund der Ereignisse nicht nur um die WM-Form Özils und Gündogans fürchten – mehr noch: Zu den deutschen Spielen bei der WM werden jeweils bis zu 10 000 Fans aus der Heimat erwartet, die Fifa verkaufte die meisten aller WM-Tickets, die ins Ausland gingen, nach Deutschland. Es ist nicht auszudenken, was passiert, wenn die Unmutsbekundungen der Anhänger auch beim Turnier in Russland weitergehen. Schon in Leverkusen war nach den Pfiffen gegen Gündogan die ganze Mannschaft verunsichert und brachte mehrere Minuten lang kaum noch einen Fuß vor den anderen.

Klar ist: Die Pfiffe sind keine Nebengeräusche mehr kurz vor der WM – sie sind eine echte, stets präsente Horrormelodie, die das Team mit nach Russland begleitet. Und die das allgemeine Binnenklima innerhalb der Mannschaft und den Verantwortlichen und damit auch den sportlichen Erfolg massiv gefährden könnte. Deutlich ist dabei, dass die Debatte bei den Anhängern und in der Öffentlichkeit nicht einfach so zu beenden ist, wie das der Teammanager Oliver Bierhoff mit seiner Basta-Politik, die er auch am Freitagabend in Leverkusen nochmals kundtat, wünscht.

In den Katakomben der Arena betonte in Mats Hummels sogar ein Führungsspieler der Mannschaft, dass die Sache eben noch lange nicht abgehakt sei – im Gegenteil. „Man muss jetzt in den Dialog treten“, sagte der Weltmeister, „auch so, dass wir Spieler für unsere Mannschaftskollegen einstehen, weil sie alles für uns geben.“

Öffentliche Kritik aus der Mannschaft an den Teamkollegen an Özil und Gündogan gibt es dabei keine – allenfalls vage Andeutungen. Darauf angesprochen, was er etwa von der latenten Schweigehaltung Mesut Özils zur Thematik halte, sagte Sami Khedira dies: „Ich habe mit ihm ein Vier-Augen-Gespräch geführt. Was gesagt wurde, bleibt unter uns.“ Es wird nicht ausgesprochen, aber man sollte sich in diesen Tagen auch mal mal kurz in die Gedankenwelt der 21 anderen deutschen WM-Fahrer hineinversetzen. Wie sehr muss es gerade in Führungsspielern und Weltmeistern wie Hummels oder Khedira innerlich gären, wenn zwei Kollegen dem Team erst einen solchen Bärendienst erweisen und der Verband es später nicht schafft, das Thema mit einem klugen Krisenmanagement irgendwie vom Tisch zu bekommen?

Deutlich wurde am Sonntag ein Mann, der seit Jahren fester Bestandteil der Reisegruppe der Nationalelf ist. Liga-Präsident Reinhard Rauball legte den Finger in die Wunde – und kritisierte die fehlende Aufarbeitung den DFB deutlich. Der Verband habe das Thema „unterschätzt“, sagte Rauball: „Und ich glaube auch, dass man es nicht alleine mit den Maßnahmen und Erklärungen, die bisher erfolgt sind, aus der Welt schaffen kann.“ Der „erhebliche Unmut“ der Anhänger, so Rauball weiter, habe angesichts der unzureichenden Reaktion der Beteiligten „eher noch zugenommen“.

DFB-Präsident Reinhard Grindel wiederum verteidigte die Spieler. Sie hätten nicht gewusst, dass die Fotos mit Erdogan zu Wahlkampfzwecken benutzt würden. „Wir haben darüber gesprochen, es war ein Fehler, das haben die beiden eingesehen. Jetzt sollte der Fußball im Mittelpunkt stehen“, forderte Grindel.

Ilkay Gündogan selbst legte einen Tag nach dem Spießrutenlauf vor den eigenen Fans ein Bekenntnis im Internet zu seinem Geburtsland ab. „Letztes Spiel vor der Weltmeisterschaft und immer noch dankbar, für dieses Land zu spielen“, twitterte Gündogan, der sich so nun offenbar Demut verschrieben hat. Schon kurz nach dem Schlusspfiff hatte er sich mit den Mitspielern auf die Ehrenrunde (was für ein Wort in diesem Zusammenhang) begeben und den Anhängern applaudiert, die ihn vorher ausgepfiffen hatten. Es war ein skurriles und irgendwie befremdliches Bild. Wenig später richtete Joachim Löw einen flehentlichen Appell an die Fans: „Wir müssen den Blick nach vorne richten. Wir spielen jetzt eine WM!“

Davor haben die Strategen der Nationalelf nun nicht weniger als eine Großbaustelle abzuarbeiten. Von den sportlichen Mängeln, die gegen die Saudis offensichtlich wurden, redete kaum jemand. Auch das ist wenige Tage vor der WM ein fatales Zeichen. Denn auch ohne den Fall Erdogan gäbe es für Löw und sein Team genug zu tun.