Neymar wird bei der WM 2018 häufig gefoult, doch dabei unterstreicht er immer wieder seine grenzenlose Leidensfähigkeit. Foto: AP

Nach der filmreifen Schauspieleinlage nach einem harmlosen Tritt an Neymar lästern die Ex-Kollegen über die Theatralik des 26-Jährigen – das einstige Raubein Eric Cantona verglich den Brasilianer mit einem Rollkoffer.

Samara - Vermutlich wird Schmuckliebhabern, und davon gibt es unter wohlhabenden Russen reichlich, das Herz aufgegangen sein. Wann hat ein Fußballer bei dieser WM seinen teuren Goldbehang so offen gezeigt wie Neymar da Silva Santos Júnior in der Kosmos-Arena von Samara als „Man of the Match“? Gleich drei Schmuckstücke baumelten um den aufwendig tätowierten Hals, und es ist davon auszugehen, dass es sich dabei nicht um die Imitate handelte, die für Schleuderpreise von ein paar Hundert Rubel in den weniger betuchten Vierteln russischer Großstädte feilgeboten werden.

Irgendwo mit muss ein Weltstar ja noch auffallen, wenn die Spaghetti-Frisur mit den blondierten Zipfeln einem fast zu normalen Kurzhaarschnitt gewichen ist. Die Selbstinszenierung ist Teil von Neymars Geschäftsmodell, dessen Gehabe und Gewese wohl zwangsläufig zur Vermarkungsmaschinerie gehört. Und doch tun dem berühmtesten brasilianischen Ballzauberer der Neuzeit die auf der ganzen Welt geführten Debatte nicht gut, wie viel Neymar-Theatralik dieses Turnier noch verträgt.

Der Dissens, der sich über die Statements des mexikanischen Nationaltrainers Juan Carlos Osorio („eine Schande für den Fußball“) und seinem brasilianischen Kollegen Tite („schaut euch die Szene an: es gab einen Tritt“) nach einer fragwürdigen Einlage spannte, veranschaulichte, welche Reizfigur der 26-Jährige gibt. Hätten die beiden Trainer wie nach einem Bundesligaspiel üblich gemeinsam auf dem Podium gesessen, wäre der Streit vermutlich eskaliert. Osorio verwies auf die schlechte Vorbildwirkung für Kinder, die auf Idole wie Neymar schauen. Frankreichs Alt-Internationaler Eric Cantona drehte im Fernsehstudio an einem gelben Rollkoffer, um damit Neymars Rollwalzen auf dem Rasen nachzuahmen. „Ich hatte schon Sorge, er stirbt“, sagte Dänemarks Ex-Nationaltorwart Peter Schmeichel als BBC-Experte. Und Englands ehemaliger Torjäger Alan Shearer mäkelte: „Es nervt, dass er jedes Mal über den Rasen rollt, als sei er schwer misshandelt worden. Warum in aller Welt macht er das?“

Mexikos Nationaltrainer Osorio nennt Neymar „eine Schande für den Fußball“.

Ähnlich echauffiert gab sich der Verursacher der Schlüsselszene. Der mexikanische Einwechselspieler Miguel Layun meinte, nichts Gravierendes verbrochen zu haben: „Das ist Fußball. Wenn er nicht berührt werden will, soll er was anderes machen. Wenn er liegen will, soll er nach Hause gehen und sich auf sein Bett legen.“ Ursache und Wirkung standen beim kurz darauf wieder quietschfidel übers Feld springenden Neymar tatsächlich in keinem gesunden Verhältnis, obwohl der Gegenspieler sich den (leichten) Tritt natürlich hätte sparen müssen, über den Schiedsrichter Gianluca Rocchi hinwegsah.

Der ohnehin der steten Fallsucht bezichtigte Neymar, der allerdings der am meisten gefoulte Spieler des Turniers (22-mal) ist und die meisten Gelben Karte veranlasst hat (acht), rechtfertigte sich damit, man wolle ihn beschädigen. „Ich kümmere mich nicht um die Kritik. Ich versuche der Mannschaft zu helfen.“ Was dem Grenzgänger mit einem Tor und anderthalb Torvorlagen beim 2:0 gelungen war. „Ich nähere mich meiner besten Form.“ Ähnlich wie den deutschen Nationaltorwart Manuel Neuer hatte den brasilianischen Superhelden ein Haarriss im Mittelfuß außer Gefecht gesetzt, und lange schien nicht klar, ob der Wettlauf mit der Zeit zu gewinnen sein würde. Ein Thema, das am Zuckerhut vertiefender behandelt wurde als die Wirtschaftskrise oder Regenwaldzerstörung.

Wie groß war erst der Schock, als Brasiliens Nummer zehn wirklich bei einer WM schwer verletzt auf einer Trage vom Platz gebracht wurde? Vor vier Jahren in dem raubeinig geführten Viertelfinale gegen Kolumbien rammte ihm Juan Zuniga so kräftig das Knie in den Rücken, dass bei Neymar der dritte Lendenwirbel brach. Der Anfang vom Ende für die brasilianischen Titelträume. Die Mission „Hexa“ soll nun 2018 erfüllt werden. Tite hat dafür sein Team mit vielen taktischen Variablen versehen. Auch fürs Viertelfinale gegen die offensivstarken Belgier am Freitag in Kasan wird er sich einen flexiblen Plan zurechtlegen, doch ein Eckpfeiler wird stets der unberechenbare Neymar bleiben.

Eric Cantona lästert: „Du berührst ihn – und er dreht sich stundenlang.“

Der Debatte um den Unterschiedsspieler der Seleçao die Schärfe zu nehmen, wirkte aus Tites Sicht verständlich. Der 57-Jährige wollte lieber gewürdigt wissen, dass „ein Akteur normalerweise vier, fünf Matches braucht, um wieder das Toplevel zu erreichen“. Sein Verhalten kommt dennoch einer Gratwanderung gleich, da Neymar bei Entfaltung seiner Klasse diese Mätzchen nicht nötig hätte. Frankreichs Fußball-Ikone Eric Cantona hatte bei Eurosport bei der Darbietung mit dem gelben Rollkoffer bösartig gelästert: „Du berührst ihn leicht und er dreht und dreht sich stundenlang.“

Aber vielleicht braucht das um ihn herum gestrickte Konsortium einfach diese Aufmerksamkeit, zu der wohl auch gehört, dass diese Figur – freiwillig oder nicht – ein ständiges Spekulationsobjekt ist. Speziell in Spanien werden gerade Zweifel gestreut, ob Neymar nächste Saison seinen Dienst bei Paris St. Germain unter Trainer Thomas Tuchel antritt.

Der spanische Sender TVE hat berichtet, dass Real Madrid angeblich 310 Millionen Euro bieten würden. Dann wäre die 222-Millionen-Rekordablöse nur einen Sommer später in den Schatten gestellt. Diese Informationen seien allerdings „absolut unwahr“, teilte der Champions-League-Sieger in einer Stellungnahme mit. Dass die Königlichen allerdings ihrer Sammlung an Stars und Sternchen gerne die schillerndsten Schmuckstücke einer WM zuführen, ist indes – siehe das Beispiel vom 2014er Torschützenkönig James Rodriguez – kein Gerücht.