Fußballfans, Public Viewing: Mit der Solidarität der Gefühle Foto: dpa

Vier Wochen Fußball-WM, vier Wochen Freilichtkino. Fußball ist das letzte große Gemeinschaftserlebnis unserer Zeit, schreibt StN-Autor Gunter Barner, und die deutsche Elf ein Spiegel der aktuellen gesellschaftlichen Zustände. Kann Deutschland feiern ohne Reue?

Es ist ein Dilemma: Unbescholtene Bürger müssen entscheiden, ob sie sich in den kommenden Wochen zum geistig zurechnungsfähigen Teil unseres Landes zählen wollen oder in Phasen umfassender Kontrollverluste den Anschein des emotional Durchgeknallten akzeptieren. Es ist wieder Fußball-Weltmeisterschaft. Und Deutschland der Titelverteidiger. Der Sportsfreund mit der unverbrüchlichen Festochsen-DNA versammelt sich erwartungsfroh am Lagerfeuer der Nation. Bereit für die drei großen G: Getränke, Gänsehaut, Gefühle. Und für ein „Schlaand“ aus voller Kehle.

Miteinander zittern

So ein Fußballfest, versichern Soziologen, ist das letzte große Gemeinschaftserlebnis unserer Zeit. Ronaldo gucken, Messi feiern, Pogba bestaunen und den sympathischen Island-Zwergen die Daumen drücken. Analog und digital. Mit und ohne Selfie. Mit und ohne Moral. Doping, korrupte Funktionäre, die undurchsichtige WM-Vergabe, astronomische Spielergehälter und Investoren, die sich den Fußball kaufen, all das zählt nicht mehr. Im miteinander Zittern um den Sieg oder im kollektiven Trauern nach der Niederlage feiert die Solidarität ihre kurzzeitige Renaissance. Wo sonst gebiert die in die Unübersichtlichkeit gestürmte globalisierte Welt so viel gesicherte Erkenntnis? Der Ball ist rund. Ein Spiel dauert 90 Minuten. Knapp vorbei ist auch daneben. Und nirgendwo anders sammelt sich so viel unverdächtiger Patriotismus: Wer Thomas Müller in seiner Absicht bestärkt, über rechts zu kommen, wählt vielleicht sogar die SPD.

Spiegelbild gesellschaftlicher Zustände

Zwar drückt das dämliche Fotoshooting von Mesut Özil und Ilkay Gündogan mit dem türkischen Despoten Erdogan noch immer auf die öffentliche Stimmung rund ums deutsche WM-Team: Die geschlossene Gesellschaft der kommenden Festspielwochen könnte dem Spaltpilz aber einigen Nährboden entziehen. Denn der Fußball erzählt ungeachtet aller Missstände noch immer die schöneren Geschichten: von Fair Play und Freundschaft, von Anstand, Toleranz, Teamgeist und von Loyalität. Vor allem dann, wenn Löws multikulturelle Auswahl stellvertretend belegt, dass Deutschland mehr kann, als sich über Flüchtlingspolitik zu streiten wie die Kesselflicker. Irgendwie ist so eine Mannschaft ja immer auch ein Spiegelbild des Zustands der Gesellschaft, aus der sie sich rekrutiert. Ihr Spiel sollte, bitteschön, nicht auch noch ins Stocken geraten.

Im Jahr der Titelverteidigung fliegen den trickreichen Germanen zwar nicht überall die Herzen zu, aber Bewunderung und Respekt sind ihnen sicher. „Ihr seid elf Außenminister in kurzen Hosen“, pflegte Sepp Herberger zu sagen. Wer weiß, dass niederländische Gäste ihre Hotelzimmer stornierten, als die deutsche Elf 1954 das WM-Quartier im schweizerischen Spiez bezog, der ahnt, dass der „Chef“ neun Jahre nach Kriegsende womöglich nicht übertrieben hatte.

Die Luft knistert vor Spannung

Auch in Russland sollten die Emissäre deutscher Fußballkunst ihren Diplomatenpass immer bei sich tragen. Denn das größte Land der Welt hat gute Chancen, als bis dato unattraktivster WM-Gastgeber in die Fußball-Geschichte einzugehen. In Putins Reich korrespondiert die öffentliche Begeisterung für die WM bisher noch mit den Erfolgschancen der eigenen Mannschaft: Tendenz gegen Null. Das freilich könnte sich schon bald ändern. Die Sbornaja eröffnet an diesem Donnerstagabend die WM mit dem Duell gegen Saudi-Arabien. Am Sonntag gibt die deutsche Elf ihren Einstand im Spiel gegen Mexiko. Am Lagerfeuer der Nation knistert die Luft vor Spannung. Am liebsten bis zum Finale.

gunter.barner@stuttgarter-nachrichten.de