Entsetzen und Enttäuschung beim Spiel gegen Chile: Bundestrainer Joachim Löw. Foto: dpa

Verletzungen, Formschwächen, fehlende Abstimmung: In der Fußball-Nationalmannschaft krankt es hinten und vorn – und dazwischen auch.

Verletzungen, Formschwächen, fehlende Abstimmung: In der Fußball-Nationalmannschaft krankt es hinten und vorn – und dazwischen auch.

Stuttgart - Irgendwann wusste Joachim Löw nicht mehr, wie er seine aufwallende Verzweiflung, eine Mischung aus Enttäuschung, Wut und Ohnmacht, verarbeiten sollte. Vor der deutschen Bank packte den Bundestrainer ein Tobsuchtsanfall nach dem anderen, er gestikulierte wild und schrie sich heiser. Und weil die Fehler auf dem Platz nicht geringer wurden, ging zuweilen ein Frust-Löser direkt in den nächsten über. Am Ende blieb die Erkenntnis: 102 Tage vor dem ersten Auftritt in Brasilien ist die deutsche Elf beunruhigend weit von ihrer WM-Reife entfernt. Entzaubert von wildentschlossenen Südamerikanern, die den blutleer und behäbig wirkenden Mitfavoriten auf den Titel technisch, taktisch und läuferisch teilweise vorführten. „Man hat gesehen, dass wir in der Lage sein müssen, uns zu verbessern. Die Spieler, die das betrifft, sind informiert“, sagte Löw in Fortführung des WM-Alarms, den er vor der Partie mit eindringlichen Worten ausgelöst hatte. Wer nach dem Champions-League-Endspiel 2013 zwischen dem FC Bayern und Borussia Dortmund glaube, nur in Deutschland gebe es Weltklassespieler, irre. „Mir muss das niemand sagen. Wir haben sehr gute Fußballer, wenn alle fit sind. Aber andere Nationen schlafen auch nicht“, sagte Löw.

Chile war jedenfalls ein Weckruf mit nachhallender Wirkung. „Eine gute Lehrstunde“, wie Per Mertesacker sagte. Vom sicheren und präzisen Passspiel, das die deutsche Mannschaft auszeichnet, war nichts zu sehen. Die vielen Ballverluste im Spiel nach vorn stürzten das Team in der Rückwärtsbewegung von einer Verlegenheit in die andere und legte die Baustellen schonungslos offen:

Rechte Abwehr: Weil Philipp Lahm im zentralen Mittelfeld aushelfen musste, durfte Kevin Großkreutz ran. Der Dortmunder hat, um es positiv zu sagen, seine Chance nicht genutzt. Realistisch betrachtet ist er ein Sicherheitsrisiko für die WM. Das Problem: Benedikt Höwedes und Lars Bender versprechen kaum Besserung, wobei der Schalker Höwedes lieber zentral und der Leverkusener Bender lieber im Mittelfeld spielt. Linke Abwehr: Marcell Jansen drängte sich bis zu seiner Verletzung, einem Außenbandriss im linken Sprunggelenk, nicht auf. Der eingewechselte Dortmunder Marcel Schmelzer nutzte seine Chance auch nicht, fiel aber umso mehr mit seiner exklusiven Sicht der Dinge auf: „Wir haben kaum Chancen der Chilenen zugelassen. Wenn doch, haben wir den Ball gut geblockt oder Manuel (Neuer) war zur Stelle.“ Dass Philipp Lahm nach neun Minuten auf der Linie retten musste, war ihm offenbar ebenso entgangen wie der Lattenschuss von Eduardo Vargas. Fazit: Schmelzer hat seinen WM-Platz dennoch sicher – gutes Gelingen! Defensives Mittelfeld: Wenn sich Joachim Löw etwas wünschen dürfte, dann wären es mit Sicherheit Zauberkräfte. Dank ihrer würde er Sami Khedira nach dessen Kreuzbandriss zu einer Blitzheilung verhelfen, damit der Ex-VfB-Profi bis zur WM fit wird. Oder er würde, was sowieso nicht schaden könnte, Philipp Lahm klonen, am besten zweimal, weil der Kapitän ohne Khedira in der Zentrale und als einziger deutscher Verteidiger von Weltklasseformat auch hinten rechts und hinten links ohne Alternative ist. Offensives Mittelfeld: Statt den formschwachen Mesut Özil durch Toni Kroos zu ersetzen, bot Löw beide auf, was keine gute Idee war: Beide nahmen sich gegenseitig an Wirkung. So hatte er nicht nur eine, sondern zwei Schwachstellen im Spiel nach vorn. Kroos erreichte sein Top-Niveau, das er beim FC Bayern zuletzt regelmäßig abgerufen hatte, nicht. Und Özil spielte auf ungewohnter Position im rechten Mittelfeld und später als falsche Neun, wie er zurzeit häufig spielt: unscheinbar bis unsichtbar, vom Zuspiel zum Siegtor durch Mario Götze abgesehen. Angriff: Miroslav Klose war mal spritzig und torgefährlich, jetzt ist er vor allem verletzt. Wenn nicht (wie gegen Chile), rechtfertigt er mit jeder seiner spärlichen Aktionen den Plan seines Arbeitgebers Lazio Rom, ihm das Gehalt zu halbieren. Ob er in Spielrhythmus kommt für WM-Partien bei 30 Grad, ist fraglich. Das Gleiche gilt für Mario Gomez, der mit seiner sperrigen Spielweise ohnehin fremd wirkt in dem (normalerweise) auf variablen Turbo-Fußball getunten Löw-Ensemble. Hinter den beiden herrscht die große Leere. Max Kruse? War gestern. Steckt im Formtief, in Gladbach nennen sie ihn schon Krisen-Kruse. Kevin Volland, Pierre Michel Lasogga? Talente für übermorgen. Timo Werner? Talent für überübermorgen. Stefan Kießling? Heißt bei Löw nur: Stefan wer?

Bis zur Kadernominierung am 8. Mai findet kein Länderspiel mehr statt, der Bundestrainer kann die Form seiner Kandidaten nur noch in deren Vereinen überprüfen und muss darauf vertrauen, dass sie die eingeforderten Extra-Schichten auch einlegen. Ansonsten lebt er vom Prinzip Hoffnung – dass die Langzeitausfälle (Khedira, Ilkay Gündogan, Sven Bender) rechtzeitig zurückkehren und die anderen Ausfälle sich fangen: Mats Hummels, Marco Reus, Thomas Müller, Höwedes, Gomez, Heiko Westermann, Lars Bender, Julian Draxler, Kruse, René Adler.

Sie alle stehen für das Team Deutschland B – wie Balsam.