Das Luschnikistadion in Moskau – Stätte des WM-Endspiels 2018 – ist pompös. In der russischen Provinz gestalten sich die Dinge anders. Foto: AP

Im Kremlpalast in Moskau werden am Freitag die Gruppen der Fußball-WM ausgelost. In der russischen Provinz scheint die Glitzerwelt des Sports ganz weit weg. Eine Spurensuche im Gastgeberland.

Stawropol - Der Winter in Stawropol ist so grau wie der Platz mit der Leninstatue. Neulich fiel der erste Schnee und jetzt peitscht einem der eiskalte Wind ins Gesicht. Frauen in Netzstrümpfen zerren an ihren Kapuzen und Männer eilen von einem Hauseingang zum nächsten. Nichts erinnert in dieser 400 Tausend-Menschen-Stadt daran, dass in Russland in wenigen Monaten die Fußball-Weltmeisterschaft beginnt. Keine Glitzerreklamen an den Straßenecken, kein Weltmeisterbrot in den Bäckereien.

1400 Kilometer weiter im Norden feiern an diesem Freitag Moderator und früherer Starstürmer Gary Lineker zusammen mit Popstars und Präsident Vladimir Putin im Kremlpalast die Ziehungen der WM-Gruppen. Im Nordkaukasischen Stawropol redet man über das Wetter.

Dabei liegt das Fußballstadion der Heimmannschaft Dynamo Stawropol gleich neben der Statue von Genosse Lenin im Herzen der Stadt. 15 000 Sitzplätze fasst das Stadion, doch ein Spiel hat hier seit über einem Jahr niemand mehr gesehen. Die Mannschaft, die sich mit Hängen und Würgen in der zweiten russischen Liga hält, ist auf Geheiß von Sponsor Gazprom 30 Kilometer außerhalb des Zentrums in ein neues Stadion gegangen. Seither scheint es so, als ob der Fußball endgültig aus der Stadt gezogen ist.

„Die Weltmeisterschaft ist für die Metropolen: Moskau, St. Petersburg, Rostow“, erzählt Sergei. Früher war er eine Zeit lang Schiedsrichter in der ersten russischen Fußballliga, pfiff Zenit gegen Lokomotiv. Jetzt organisiert er Jugendturniere für Mannschaften aus dem Kreisverband. Um in sein Büro zu gelangen, betritt man eine Seitentür unterhalb der Tribüne des verlassenen Dynamo-Stadions und geht durch einen dunklen Gang. Im Raum nebenan verkauft ein Mann gefälschte Kosmetikartikel aus Frankreich.

Sergei selbst sitzt mit Seitenscheitel und Trainingsjacke vor dem Computerbildschirm und raucht eine Zigarette nach der anderen. Der Elektrolüfter schnaubt auf Hochtouren, an der Wand hängen Hunderte von Vereinswimpel, die Sergei bei Jungendturnieren einsammelte.

Es gibt zwölf WM-Spielorte

Ob er sich auf die WM im eigenen Land freue? „Für Kinder ist es schön, wenn sie Messi und Ronaldo im Stadion sehen“, sagt er. Für ihn selbst mache es keinen Unterschied, ob die Spiele in Moskau oder Berlin stattfinden. In Stadien geht er nicht. Als Schiedsrichter habe er genügend Spiele auf dem Platz gesehen. Dazu würden für gute Plätze 10 000 Rubel fällig, fast 150 Euro. Bei seinem Verdienst von 30 000 Rubel im Monat viel Geld. Hinzu gingen aus Stawropol die Flieger nur nach Moskau – da überlegt man sich eine Reise dreimal. In Bars und auf öffentlichen Plätzen mag er das „Geschrei“ der anderen nicht.

„Ich schaue lieber zuhause vor dem Fernseher mit Profis“, sagt Sergei nüchtern. „Profis“, das sind andere Schiedsrichter, die beim Kreisverband angestellt sind. Und Public Viewing habe die Regierung sowieso in Städten, wo keine Partien ausgetragen werden, verboten. Aus Terrorgefahr, sagt man in Stawropol. „So genau weiß es niemand“, sagt Sergei und zuckt mit den Schultern.

An zwölf Spielorten werden die WM-Spiele in Russland ausgetragen. Mit Ausnahme von Jekaterinburg, das 40 Kilometer östlich der imaginären Trennlinie zwischen Europa und Asien liegt, sind alle Austragungsorte im europäischen Teil des Landes. In weiten Teilen des Urals, Sibiriens und des Kaukasus scheint der Fußball ganz weit weg. Um diesen Eindruck nicht zu erwecken, errichtet das Land 60 Sportzentren, die sich als Quartiere für eines der 32 WM-Teams bewerben.

Der Gastgeber mit Außenseiterchancen?

So soll die Infrastruktur auch außerhalb der Metropolen vom sportlichen Großereignis profitieren und WM-Flair in die Provinz tragen. In Stawropol ist nun auch eine solche Anlage für mehrere Millionen Euro mit neuem Hotel eröffnet worden.

In einer Spielhölle unweit des Leninplatzes streiten Ruslan und der Barkeeper darum, wer die WM in Russland gewinnt. Frankreich, sagt der Barkeeper. Deutschland, sagt Ruslan. Geld auf die Mannen von Jogi Löw will Ruslan, der Polizist mit dem Fünftagebart, noch nicht wetten, dafür ist die Saison zu früh. Aber er verfolgt das Team genau. Von der eigenen Sbornaja hält er nicht viel.

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„Die fliegen hochkant raus“, sagt Ruslan, der mehrmals in der Woche sein Geld auf Fußballergebnisse in England und Deutschland verwettet. Mit viel Glück könne Russland aber die Überraschung gelingen und die Mannschaft in die K.o.-Spiele einziehen. „Vielleicht schaffen wir ja etwas wie Deutschland 2006“, sagt Ruslan und nimmt einen kräftigen Schluck aus dem Wasserglas. Damals sei Deutschland der krasse Außenseiter gewesen. Und als sie dann ein Spiel nach dem anderen gewonnen hätten, seien die Fans und die Stimmung plötzlich da gewesen. „Vielleicht passiert das in Russland auch“, sagt Ruslan, „dann würden sich die Leute endlich auch für die WM begeistern“.