Unbändiger Jubel beim FC Liverpool, Enttäuschung pur beim Dortmunder Ilkay Gündogan Foto: EPA

Das 4:3 des FC Liverpool in der Europa League gegen Borussia Dortmund hat wieder einmal bewiesen: Der Fußball schürt Emotionen für die Massen wie keine andere Sportart. Beispiele gibt es genug.

Liverpool/Stuttgart - Wer nicht weiß, was der Fußball mit den Menschen so alles anstellen kann, der wäre gut beraten gewesen, am Donnerstagabend im Stadion an der Anfield Road zugegen zu sein. Oder auf der Geburtsstation der Klinik in Liverpool. Dort nämlich verbrachte ein Anhänger des legendären Football Club die Nacht auf Freitag, sein Sohn wurde geboren – und die Diskussionen um die Namensgebung war schneller beendet als die Fünf-Minuten-Terrine Zubereitungszeit benötigt. „Ich werde ihn Dejan nennen“, sagte der Fan. Nach dem einen Helden dieser Nacht.

Der FC aus der Hafenstadt im Nordwesten Englands war am Donnerstagabend im Grunde schon ausgeschieden gewesen im Viertelfinale der Europa League. 1:3 hieß es im Duell gegen Borussia Dortmund, im Duell von Liverpools Coach Jürgen Klopp gegen seine alte Liebe, den BVB. Doch dann bewies Klopp seine Begabung für Unmögliches, dann bewies der Europapokal seine Neigung zu wahren Dramen – und dann bewies der Fußball ganz generell, warum er Emotionen schüren kann, die die Massen wie keine andere Sportart in ihren Bann zieht. Es fiel das 2:3, das Stadion brodelte, dann das 3:3, die Arena bebte, in der Nachspielzeit auch noch das 4:3 für den FC Liverpool, die Menge war der Explosion nahe – und mit rationalen Erklärungen wurde es entsprechend schwierig.

„Eine Erklärung würde bedeuten, dass etwas Logisches passiert ist“, sagte der Dortmunder Trainer Thomas Tuchel und kam zu dem Schluss: „Aber so war es nicht.“ Mats Hummels, der BVB-Kapitän, fühlte eine „Riesen-Enttäuschung“, denn „das war der realistischste Titel, der rumlag“. Und alle Schwarz-Gelben mussten sich eingestehen, das im Grunde sichere Ding nicht durchgebracht zu haben. Die Reds, die Roten, dagegen feierten (Klopp: „Eine unvergessliche Nacht“), rieben sich zuweilen verwundert die Augen (wieder Klopp: „Es ist nicht zu glauben, dass das wirklich auf diese Art passiert ist“), erinnerten sich aber auch, so etwas schon einmal erlebt zu haben. Und noch in der Pause der Partie am Donnerstagabend half Klopp seinen Jungs auf die Sprünge – und sprach von einem unfassbaren Abend, wie es immer wieder welche gab in der Geschichte des europäischen Vereinsfußballs. Einige Beispiele:

2005: Im Finale der Champions League lag der FC Liverpool 0:3 gegen den AC Milan zurück, innerhalb von 15 Minuten trafen die Reds, unter anderem mit Didi Hamann, dreimal und setzten sich später im Elfmeterschießen durch. Heute gilt dieses Ereignis in England als „Wunder von Istanbul“.

1999: Fans des FC Bayern – und auch Spötter – sprechen noch heute über „die Mutter aller Niederlagen“. Die Münchner führten im Champions-League-Finale gegen Manchester United bis zur 90. Minute 1:0, die Vorbereitungen für die Siegesfeier liefen schon, Lothar Matthäus war schon ausgewechselt. Doch in der Nachspielzeit trafen Teddy Sheringham und Ole-Gunnar Skolskjaer. 1993: 1:3 hatte der Karlsruher SC das Hinspiel in der zweiten Uefa-Pokalrunde gegen den spanischen Tabellenführer FC Valencia verloren, die Chancen im Rückspiel waren dürftig, doch dann geschah „das Wunder vom Wildpark“. Der KSC siegte 7:0, allein Edgar „Euro-Eddy“ Schmitt traf viermal.

1986: „Die Mutter aller Comebacks“ beginnt mit einer 0:2-Hinspielniederlage von Bayer Uerdingen im Viertelfinale des Europapokals der Pokalsieger bei Dynamo Dresden. Auch im Rückspiel liegen die Uerdinger 1:3 hinten und Trainer Karlheinz Feldkamp hat nur noch ein Ziel: Einen würdevollen Abschied. Doch am Ende hat sein Team das Spiel gedreht: 7:3.

1986: Der Erfolg war triumphal – das Weiterkommen im Prinzip besiegelt. Borussia Mönchengladbach siegte im Achtelfinale des Uefa-Pokals 5:1 gegen Real Madrid. Doch dieses eine Auswärtstor der Königlichen wurde der Borussia zum Verhängnis. In der 89. Minute des Rückspiels erzielte Real das entscheidende 4:0.

Den Schmerz des unerwarteten Scheiterns muss nun der BVB ertragen. „Die Enttäuschung sitzt tief, und sie wird noch tiefer werden“, klagte Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke. Doch in diese emotionale Abwärtsspirale wollte sich Thomas Tuchel nicht fügen. „Uns mit negativen Szenarien zu beschäftigen, wäre das Schlimmste, was wir tun könnten“, warnte der BVB-Coach, „wir müssen die Enttäuschung in Trotz und Energie umwandeln.“ Am Sonntag geht es in der Bundesliga gegen den HSV, am Mittwoch im Pokal bei der Hertha um den Finaleinzug – und damit um eine weitere Chance, historische Momente zu erleben.