Joachim Löw blickt dem Halbfinale gegen Frankreich gelassen entgegen. Foto: dpa

Als Weltmeister trifft die Elf von Joachim Löw selbstbewusst auf die Équipe tricolore. Vor dem Halbfinalspiel an diesem Donnerstag gegen Frankreich gibt es für die deutsche Mannschaft allerdings vier Knackpunkte.

Marseille - Sie haben wieder ihre Rollkoffer gepackt, die Kopfhörer aufgesetzt und auch den Imbiss nicht vergessen. In den Mannschaftsbus haben sie sich gesetzt und sind den weiten Weg von Evian nach Annecy gefahren, der eigentlich viel zu lange dauert, an den sie sich aber irgendwann gewöhnt haben. Sie sind in den schwarz lackierten Privatjet gestiegen, den der DFB vor dem Turnier extra für seine Nationalmannschaft erworben hatte. Und dann sind die deutschen Spieler und ihre Betreuer an den nächsten Spielort geflogen, zum sechsten Mal bei dieser Fußball-Europameisterschaft in Frankreich, Routine mittlerweile.

Eines aber ist anders als bei den fünf bisherigen Reisen, die je zweimal nach Lille und Paris sowie nach Bordeaux geführt haben. Aus Marseille wird der DFB-Tross nicht mehr nach Evian zurückkehren – ausgedient hat nach mehr als vier Wochen das Basislager am Genfer See. Offen bleibt nur eine Frage: ob der nächste Flug nach Paris oder nach Frankfurt geht, zum großen Endspiel in Saint-Denis oder zurück in die Heimat. Das entscheidet sich an diesem Donnerstag (21 Uhr/ZDF), wenn der Weltmeister im Halbfinale auf den EM-Gastgeber trifft. „Wir haben einen schweren Weg vor uns, aber wir sind bereit, ihn zu gehen“, sagt der Teammanager Oliver Bierhoff .

1.  Knackpunkt Abwehr

Fünfmal war die deutsche Mannschaft bis zum Viertelfinale ohne Gegentreffer geblieben. Ein Elfmetertor kassierte sie gegen Italien nur, weil der sonst so überragende Jérôme Boateng in einem schwachen Moment beide Arme in die Luft gerissen hatte. Doch stellen sich nun gegen Frankreich gleich zwei Probleme: Erstens muss Boatengs ebenso herausragender Nebenmann Mats Hummels nach seiner zweiten Gelben Karte zuschauen. Und zweitens sieht sich die Abwehr diesmal einer Offensive gegenüber, die es nicht allein aufs Kontern anlegt und nicht so leicht auszurechnen ist wie die italienische.

Der kopfballstarke Olivier Giroud im Angriffszentrum; der schmächtige, aber trotzdem durchschlagskräftige Antoine Griezmann, der bereits vier Tore erzielt hat; dazu der brillante Distanzschütze und Vorbereiter Dimitri Payet, der wie Giroud dreimal getroffen hat. In der Summe ergibt das eine Offensivabteilung, „die wahnsinnig viel Qualität mitbringt“, wie der Torwart Manuel Neuer sagt. „Die Franzosen wechseln im Angriff ständig die Positionen, das macht sie so gefährlich“, erklärt der Bundestrainer Joachim Löw und will nicht verraten, ob er wieder mit einer Dreier- oder einer Viererkette dagegenhält. Bei der ersten Variante käme Shkodran Mustafi als zusätzlicher Innenverteidiger in die Mannschaft. Andernfalls würde Löw das zentrale Mittelfeld stärken, um die Franzosen möglichst weit vom eigenen Tor wegzuhalten.

2.  Knackpunkt Schweinsteiger

Er werde nicht mehr den Fehler begehen, in einer so bedeutenden Partie einen Spieler aufzustellen, der nicht zu hundert Prozent fit sei, das hat Löw nach dem Italien-Spiel gesagt, als Bastian Schweinsteiger wegen Knieproblemen im Krankenhaus untersucht wurde. Und am Mittwoch nach dem Abschlusstraining, während dessen Schweinsteigers rechtes Knie dick bandagiert war, hat der Bundestrainer verkündet: „Die Verletzung ist so gut wie auskuriert, er wird definitiv beginnen. Er hat die Physis und die Kraft, von Anfang an zu spielen. In so einem Hexenkessel ist seine Erfahrung enorm wichtig. Er kann unserer Mannschaft unheimlich viel geben.“

Dringend gebraucht wird der Weltstar in der Tat, nicht zuletzt weil Sami Khedira verletzt passen muss. Schweinsteiger mag längst nicht mehr in der Verfassung früherer Tage sein – allein seine Präsenz aber soll den Mitspielern Sicherheit geben und den Gegnern Ehrfurcht abnötigen. Als Ersatz wäre neben Emre Can der junge Julian Weigl in Betracht gekommen, leichtfüßiger als Schweinsteiger zwar, aber ohne jegliche Erfahrung auf der ganz großen Fußballbühne. Die bringt nun der Kapitän ins Spiel.

3.  Knackpunkt Angriff

Schwer wiegt einerseits der Ausfall von Mario Gomez, der im Laufe des Turniers immer besser geworden ist und nicht nur zwei Tore erzielt, sondern auch ein gewaltiges Arbeitspensum im Dienste der Mannschaft verrichtet hat. Weil Mario Götze weit hinter den Erwartungen blieb, darf man vermuten, dass nun Thomas Müller den Platz von Gomez einnimmt und nach ganz vorne in die Sturmspitze rückt. Ein unermüdlicher Kämpfer auch er, vom Glück bei dieser EM aber verlassen. Noch immer wartet Müller auf sein erstes Tor.

Andererseits: so stark die Offensivabteilung des EM-Gastgebers ist, so anfällig hat sich bei diesem Turnier die französische Abwehr präsentiert. In bisher jedem Spiel offenbarte sie gewaltige Schwächen. Kein Wunder: schon die ursprüngliche Kombination von Laurent Koscielny mit Adil Rami in der Innenverteidigung war nach dem Ausfall mehrerer Stammkräfte nur eine Notlösung. Nach Ramis Gelbsperre im Viertelfinale gab Samuel Umtiti sein Nationalmannschaftsdebüt, so etwas wie der Ersatz vom dritten Ersatzmann. Und auf den Außenverteidigerpositionen mögen in Bacary Sagna (33) und Patrice Evra (35) Spieler mit großer Erfahrung stehen – die allerschnellsten aber sind sie nicht mehr.

4.  Knackpunkt Heimvorteil

Auch deutsche Fans in weißen Trikots werden im Stade Vélodrome sitzen – Gehör dürften sie sich aber kaum verschaffen können. Eine blaue Wand erwartet die DFB-Mannschaft in Marseille, „ein fanatisches Publikum, das die Franzosen bedingungslos nach vorne peitschen wird“, wie Joachim Löw ahnt. Das mag neben den Personalsorgen und dem kraftraubenden deutschen Viertelfinale ein Vorteil für den Gastgeber sein – „ich sehe daher Frankreich leicht favorisiert“, sagt Bierhoff.

Jedoch: wie man in der Höhle des Löwen nicht nur überlegen, sondern auch triumphieren kann, das hat die deutsche Mannschaft beim 7:1-Sieg gegen Brasilien im Halbfinale der WM 2014 in Perfektion demonstriert. Also braucht keiner zu befürchten, dass den Weltmeistern, gestählt nicht nur in Brasilien, vor Aufregung die Knie schlottern. Und schon gar nicht dem Weltmeistertrainer. „Diese Kraft, diese Dynamik, diese Atmosphäre“, sagt Joachim Löw: „Es ist super, dass es solche Spiele gibt. Ich liebe diese Spiele.“