Das deutsche Weltmeisterteam kämpft vor der Fußball-Europameisterschaft in Frankreich gegen den Schlendrian, der mit dem Titelgewinn vor zwei Jahren eingekehrt ist.

Ascona - Jetzt sind sie also unter sich. 23 Mann sind übrig geblieben, nachdem Joachim Löw seinen endgültigen EM-Kader benannt und vier Spieler nach Hause geschickt hat; 23 Mann, die in Frankreich den Titel gewinnen wollen. Jetzt beginnt die nächste und letzte Vorbereitungsphase, von nun an, sagt der Bundestrainer, gehe es um „den Feinschliff“, es gelte, „die Puzzleteile zusammenzulegen“, wie sein Assistent Marcus Sorg meint.

Mats Hummels ist noch am Oberschenkel verletzt und dreht auf dem Nebenplatz des Stadio Comunale in Ascona seine Runden. Der Rest der Mannschaft aber hat sich auf dem Hauptspielfeld versammelt, darunter mittlerweile auch Bastian Schweinsteiger, zwar nur als Libero, aber immerhin. Es wird gepasst, geflankt, geschossen – das kleine Einmaleins vor großen Turnieren. An körperlicher Fitness und taktischer Flexibilität dürfte es am Ende der Vorbereitung auch diesmal nicht fehlen. Das alleine wird aber kaum reichen, um in Frankreich ganz oben zu stehen.

Der Weltmeistertitel 2014 hat alles verändert

Was noch fehlt im großen Puzzle, das sind die Einstellung, die Spannung, der Siegeswille – unabdingbare Voraussetzungen, um ein großes Ziel zu erreichen. „Wir müssen jetzt wieder die richtige Mentalität reinbringen“, sagt Sami Khedira. Genau darin dürfte in den nächsten Tagen und Wochen die wichtigste und schwierigste Aufgabe bestehen, die das deutsche Nationalteam zu bewältigen hat.

Der Weltmeistertitel 2014 hat alles verändert. Jahrelang hatten die Mannschaft und ihr Trainer auf das Ziel hingearbeitet, endlich wieder einen Titel nach Deutschland zu holen. Vorher waren sie immer kurz vorher gescheitert und hatten die Niederlagen im EM-Finale 2008 und den Halbfinals der WM 2010 und der EM 2012 als Ansporn genommen, noch mehr zu tun. Dann standen sie schließlich ganz oben, am 13. Juli 2014 in Rio, als im Maracanã-Stadion alle Fußballerträume in Erfüllung gingen.

Seither muss im Grunde keiner mehr irgendetwas beweisen. Das gilt für Joachim Löw, der auf alle Zeiten Weltmeistertrainer bleiben wird, auch wenn er in Frankreich schon in der Vorrunde scheitert. Vieles von dem, was ihn vor früheren Turnieren umgetrieben hat, interessiert ihn jetzt nicht mehr – beispielsweise die ungeklärte Zukunft einzelner Spieler wie Mario Götze, mit der er „nicht mehr konfrontiert“ werden will. Es ist die Freiheit des Unantastbaren, die Löw seit zwei Jahren sichtbar genießt und ausstrahlt.

Vielen Spielern geht es nicht anders. Philipp Lahm, Miroslav Klose und Per Mertesacker, die über viele Jahre hinweg zentrale Führungsrollen besetzt und die Mitspieler nach vorne getrieben hatten, sind am Höhepunkt ihrer Karriere zurückgetreten. Und jenen, die geblieben sind, fällt es seit Rio bisweilen schwer, sich in der DFB-Auswahl für neue Ziele zu motivieren. „Es ist nach einem solchen Triumph völlig normal und menschlich, dass man erst einmal ein bisschen einbricht“, sagt Sami Khedira.

Die deutsche Stammelf wird im Wesentlichen aus Weltmeistern bestehen

Ein „Mentalitätsproblem“ hat der frühere Stuttgarter schon vor Monaten ausgemacht, „das habe ich bei mir registriert und auch bei anderen“. Ungewohnt holprig quälte sich die deutsche Mannschaft durch die EM-Qualifikation und ließ es auch in Testspielklassikern eher gemächlich angehen. „Man ertappt sich dabei, dass man den letzten Schritt nicht aggressiv genug macht“, räumte Thomas Müller nach der 2:3-Niederlage gegen England im vergangenen März ein. In dieser Verfassung, das hatte Khedira schon zuvor kundgetan, habe die deutsche Mannschaft bei der EM „keine Chance auf den Titel“.

Auch in Frankreich wird die deutsche Stammelf im Wesentlichen aus Weltmeistern bestehen: Neuer im Tor, Boateng und Hummels in der Abwehr, Khedira, Kroos, Schweinsteiger, Özil, Müller und Götze davor. Allesamt internationale Topspieler, die keinerlei Probleme haben dürften, durch die Vorrunde zu marschieren. In den K.-o.-Spielen aber, wenn die Gegner besser werden und alles dafür tun, den Weltmeister aus dem Turnier zu kegeln, entscheidet nicht immer die größere Klasse, sondern der größere Willen. „Darauf muss sich jeder besinnen, dafür sind wir hier“, sagt Khedira: „Wir Spieler sind dafür verantwortlich, diesen Geist wieder in die Mannschaft zu bekommen.“

Mit gutem Beispiel will der italienische Meister von Juventus Turin, der vor dem WM-Finale kurzfristig ausgefallen war, in den nächsten Tagen und Wochen vorneweg marschieren. Er sei wieder topfit und könne daher „noch mehr Einfluss auf die Dinge nehmen, die innerhalb der Mannschaft passieren“. Khedira wird viel zu tun haben.