Wer hätte das gedacht? Portugal steht im Finale der Fußball-EM. Vor allem wegen Ronaldo. Der glänzt nicht nur in der Offensive, sondern ist sich auch für Drecksarbeit nicht zu schade.
Lyon - So hat man Cristiano Ronaldo noch selten gesehen. Wie er bei jedem gegnerischen Eckball oder Freistoß zurückeilt, um sich in das Abwehrbollwerk zu stellen. Wie er hinterher auf die Innenverteidiger José Fonte und Bruno Alves einredet, ja sie fast beschwört, den Laden dicht zu halten. Und wie er sich fürchterlich aufregt, als Gareth Bale in der letzten halben Stunde dennoch frei zum Schuss kommt.
Doch mit dem Abpfiff ist all die Anspannung aus dem Supermann des portugiesischen Fußballs gewichen. Nur einen Augenblick der persönlichen Freude hat er sich mit geballten Fäusten gegönnt nach dem 2:0 gegen Wales, danach galten seine Gesten dem Team und seine Gedanken dem Traum vom Triumph bei der EM.
„Wir sind nur noch einen Schritt davon entfernt“, sagt Ronaldo. Und da Träume auch den Fußballmillionär nichts kosten, wie er betont, will er sich diesen Traum bis Sonntag bewahren. Dann ist im Stade de France vor den Toren von Paris Zahltag: das große Finale, in das sie als kleiner Außenseiter gehen werden – aber das ist für die Südeuropäer unerheblich.
Tor und Vorlage durch Ronaldo
Na und? Denken sie sich im portugiesischen Lager. Sie sind ja viel weiter gekommen, als die meisten ihnen zugetraut haben. Weshalb aus Ronaldo nach dem Halbfinalerfolg über die wackeren Waliser die Erleichterung spricht. Wieder hat er die Partie in Lyon geprägt mit seinem Führungstreffer und der Torvorlage für Nani. Wieder ist er zum Spieler des Spiels gewählt worden. Doch im Gegensatz zum Nachspiel nach der entscheidenden Gruppenbegegnung mit Ungarn gibt sich Ronaldo diesmal gelöst. Damals waren keine Fragen an den Beau der Branche erlaubt, betonte der Medienbeauftragte der Uefa. Weil der Star kurz zuvor für einen Eklat gesorgt hatte – und das Mikrofon eines Reporters in einen See warf.
Ohne Worte ist das, mittlerweile aber auch Geschichte und nicht mehr als ein Geschichtchen, da der TV-Sender nach dem Mikro tauchen ließ, um es für einen guten Zweck zu versteigern. Nun hat CMTV seine Publicity gehabt und die Aufmerksamkeit richtet sich wieder auf den Wert Ronaldos für diese Mannschaft. Mit seinen persönlichen Marken, zu denen nun auch die gesprungenen 2,62 Meter (errechnet von der englischen Zeitung „Daily Mail“) bei seinem Kopfballtor zählen, und seiner Aura.
Mit 20 Spielen führt Ronaldo zudem die Liste der meisten EM-Einsätze an. Mit neun Treffern hat er zum Rekordtorschützen Michel Platini aufgeschlossen. Allerdings benötigte der Portugiese vier Turniere, während der Franzose nur die sechs Endrundenspiele von 1984 brauchte. Ronaldo ist auch der einzige Spieler, der dreimal in einem EM-Halbfinale auflief.
Trauma der Vergangenheit
Doch das alles bedeutet ihm nach eigener Aussage nichts. „Entscheidend ist, dass wir die Chance haben, mit Portugal einen Titel zu gewinnen“, sagt der Stürmer. „Das würde ich lieben und der ganzen Nation wünschen.“ Denn ganz nah liegen der gegenwärtige Traum und das Trauma der Vergangenheit zusammen. Verbunden durch eben Ronaldo, der 2004 in seinem ersten EM-Finale mit der goldenen Generation der Portugiesen überraschend in Lissabon an den griechischen Maurermeistern von Otto Rehhagel scheiterte.
Heute gelten die Schönspieler von einst selbst als Zerstörer. Ein Team zwar, das durch Ronaldo und Nani über höchste individuelle Offensivqualität verfügt, aber es ist auch geprägt durch Spieler wie den unerfahrenen Renato Sanches oder den routinierten Bruno Alves, die durch ihren Körpereinsatz ebenso eine fast schon brachiale Note hinzufügen können, nicht eingerechnet der gegen Wales verletzte Pepe.
Zusammen ergibt diese Mischung aus jung und alt, Zerstörungskraft und Gestaltungswillen ein stabiles und charakterfestes Gebilde. So ganz nach dem Geschmack des Trainers und wie er den Fußball versteht. „Es geht nicht darum, ob wir schön oder hässlich spielen. Es geht schlicht um den Sieg“, sagt Fernando Santos – und somit geht es für den 61-Jährigen darum, dieses Endspiel zu gewinnen. Wie auch immer.
Diese simple Sichtweise hat der Mannschaft plus Ronaldo jedenfalls einen klaren Fokus jenseits der öffentlichen Erwartungen gegeben. Von Spiel zu Spiel der großen Sehnsucht entgegen. „So ein Titelgewinn ist kein 100-Meter-Sprint, sondern ein Marathonlauf“, sagt Ronaldo – und er, der 31-jährige Fußballer mit den immer noch schnellen Beinen will Ausdauer beweisen und nach zwölf Jahren endlich die Rechnung mit der Vergangenheit begleichen.