Der ehemalige DFB-Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder bei der Verleihung des Julius-Hirsch-Preises 2011 im Meilenwerk in Düsseldorf. Foto: dpa

"Ein stürmisches Leben“ zwischen Politik und Sport: Mayer-Vorfelder legt seine Memoiren vor.

Stuttgart - Im März wird er 79, aber auf eine Frage weiß er noch immer keine Antwort. Warum trennte er die Menschen wie kaum ein anderer? Er senkt die Mundwinkel, zuckt mit den Achseln und brummt: „Sagen Sie es mir.“ Einleuchtend ist: Er wollte nie zu den Politikern gehören, die glattgebügelt wie ein weißes Hemd im Schrank der Geschichte liegen.

Es gibt Menschen, die ihn ungemein schätzen. Vielleicht so wie einen Traumpass im Fußball. Und es gibt solche, die seinen Namen so gern lesen wie den Mahnbescheid vom Finanzamt. „Du hast 150-prozentige Freunde“, beliebt sein Parteikollege Günther Oettinger zu scherzen, „und 150-prozentige Feinde. Und beide sind zu hundert Prozent überzeugt, auf der richtigen Seite zu stehen.“

Die Memoiren waren eigentlich nicht geplant

Solche Erkenntnisse haben den Rechtsausleger der baden-württembergischen Christdemokratie noch nie in die Depression getrieben. „Wenn ich angegriffen werde“, sagte er immer dann, wenn die Luft dünn wurde, „fange ich nicht an zu weinen.“ Fast 30 Jahre lang hat ihn die Rolle als Bad Boy der Landespolitik mehr herausgefordert als verdrossen. Und manchmal schien es, dass er erst dann zu großer Form auflief, wenn seine Gegner aus allen Rohren feuerten. Doch jetzt, da sein Leben auf die Zielgerade biegt, soll der Blick zurück keiner im Zorn sein.

Mit den Memoiren, sagt er, sei es eigentlich so gelaufen wie häufig in seinem Leben: „Das war so nicht geplant.“ Doch jetzt gibt es sie, aufgelegt mit 3000 Exemplaren und versehen mit der Skepsis des Beschriebenen: „Meine Güte, wer will das denn lesen?“

Jene vielleicht, die bis heute nicht davon zu überzeugen sind, dass sich hinter dem Markennamen MV mehr verbirgt als die mit Rolex-Uhr und Goldkettchen bewehrte Reizfigur, für die sie den Bonvivant der Landespolitik Zeit seines Wirkens hielten. Oder auch jene, die sich immerfort mit der Frage quälten, wie um alles in der Welt der Skandal-Hansel im Ministerrang allen Anfechtungen aus Politik und Sport widerstehen konnte.

MV spielte virtuos mit dem Netzwerk seiner Beziehungen

Mitte der 90er Jahre, als er in Verdacht geriet, dem Steuern hinterziehenden Tennis-Vater Peter Graf einen Promi-Bonus gewährt zu haben, hefteten sich 20 „Spiegel“-Rechercheure an die Fersen des hartleibigen Hauptmanns der Reserve. Eine Kerbe durften sie sich trotzdem nicht in den Schreibtisch ritzen. MV hat den öffentlichen Wirbelsturm genauso unbeschadet überstanden wie die Affären um Toto-Lotto, Schellenturm oder Südmilch. Nur einmal ging der alte Kämpe leicht in die Knie: Als unsere Zeitung enthüllte, dass der ehrenamtliche Präsident gegen Ende seiner 25 Jahre beim VfB die Hand aufgehalten hatte. „Ich muss zugeben“, gestand er später ein, „das ging an meine Ehre. Das hat mich tief getroffen.“ Nennenswerte Folgen hatte es nicht. „Meinen Skalp“, jubelte MV, „hat sich nie einer an den Gürtel gehängt.“

Der Jurist wusste immer, wie weit er unbeschadet gehen konnte, der Politiker spielte virtuos mit dem Netzwerk seiner Beziehungen, und der Mensch verstand es mit seiner Art von Umgänglichkeit auch in höchster Not, eine hinreichende Zahl von Helfern auf seine Seite zu ziehen. „Es war eine sehr intensive Phase meines Lebens“, sagt er heute, „aber alles hat seine Zeit.“

"Da macht man sich eben nicht nur Freunde"

Gerhard Mayer-Vorfelder rührt so ausgiebig in seinem Campari-Orange wie ein Mensch, für den die Zeit kein knappes Gut mehr ist. Der Löwe ist alt geworden, aber nicht gebrechlich. Sein Gang ist nicht mehr stolz, doch immer noch fest. Und seine Stimme verzichtet auf die Modulationen früherer Tage. Wem sollte er auch die Bereitschaft zum Kampf noch signalisieren?

„Wissen Sie“, sagt er und hebt ein wenig angestrengt das Kinn, „ich habe mich immer klar entschieden, wofür ich stehe. Und das habe ich mit Leidenschaft vertreten. Da macht man sich eben nicht nur Freunde.“ Er diente dem Land als Abteilungsleiter im Staatsministerium, als Staatssekretär und als Minister. Den ehemaligen Ministerpräsidenten Hans Filbinger, seinen Ziehvater, verehrt er bis heute. „Von ihm“, sagt er, „habe ich unglaublich viel gelernt.“ Wegen seiner Vergangenheit als Marinerichter im Dritten Reich musste Filbinger im August 1978 zurücktreten. „Das war für mich der bitterste Moment in der Politik“, erinnert sich MV. Zu den schönsten zählt er, als ihn Lothar Späth 1980 zum Kultusminister berief. „Ich stand mit der Urkunde in der Hand da und dachte an meinen viel zu früh verstorbenen Vater. Wie stolz er jetzt auf mich wäre“, erzählt er – mit Tränen in den Augen.

Lothar Späth versuchte ihm das Präsidentenamt beim VfB auszureden

Lothar Späth, erwiesenermaßen kein großer Freund des Fußballs, versuchte ihm das Präsidentenamt beim VfB Stuttgart auszureden. Es passe nicht zu einem Minister, der neben Bildung und Kultur auch den Sport zu vertreten habe. „Kommt nicht infrage“, antwortete MV. „Dann mach deinen Scheiß-VfB halt weiter“, schimpfte der Landesfürst.

Später rief er ihm zu: „Gerd, senk’ deinen Adrenalinspiegel“, wenn er im Landtag zum Wortgefecht rüstete. Seine Händel mit der Opposition betrieb er mit dem Oberkörper halb über dem Rednerpult hängend, die linke Hand in der Hosentasche in freier Rede und mit einer Schlagfertigkeit, die jeden Rhetorik-Professor begeistert hätte. Als der Grüne Fritz Kuhn den Doppelhaushalt von Erwin Teufel als „Erwin 1“ und „Erwin 2“ verhöhnte, konterte MV: „Und Ihr Progrämmle ist nicht mehr als Fritzle 1 und Fritzle 2.“

Als Bildungspolitiker forderte er das Studium traditionellen Liedguts

„Wir brauchen keine Medienkunde“, schleuderte er den Bildungsexperten entgegen, „wir brauchen Eltern, die den Fernseher abschalten.“ Und als auf Antrag der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) Kondomautomaten in den Aulen aufgestellt werden sollten, rief er: „In der Schule wird nicht gebumst, sondern gebimst. Rechnen, lesen, schreiben.“ Es sei die Zeit gewesen, ätzt MV, als die Lehrer aus Angst, die ewige Jugend zu verlieren, jedem Schüler das Du anboten. Eine Bildungsreform jagte die andere, und das Abitur konnte man notfalls auch mit Kenntnis über das Laichverhalten des Breitmaulfrosches bei Westwind bestehen. Die Schulen zogen sich mehr und mehr zurück in die Rolle als reine Wissensvermittler. „Aber die Schule“, beharrte der Bildungspolitiker, „hat auch einen Erziehungsauftrag.“ Er forderte das Studium traditionellen Liedguts bis hin zur Nationalhymne, er verlangte Ordnung, Disziplin, Fleiß und Pünktlichkeit von Lehrern, die, geimpft mit den antiautoritären Idealen der 68er, der Mitbestimmung und erzieherischer Freiheit huldigten. Sein Lieblingswitz aus jenen Jahren: Wie erkennt man beim Schulbesuch die GEW-Mitglieder unter den Lehren? Antwort: am missmutigen Gesicht. So macht man sich Feinde.

Als ihm ein Pädagoge in abgetragenen Jeans, Jesus-Latschen und Zottel-Bart mit dem Satz entgegentrat, es tue ihm leid, dass er nicht dem Idealbild des Ministers entspreche, entgegnete MV knochentrocken: „Das Einzige, was mir leid tut, ist, dass einer wie Sie auf der Gehaltsliste des Landes steht.“ Heute gesteht er ein wenig zerknirscht, im Eifer manches Mal zu sehr alle über einen Kamm geschoren zu haben: „Es gab damals auch viele gute und engagierte Lehrer, manchem habe ich Unrecht getan.“

Er stichelt nur sanft gegen Sozis und Erwin Teufel

So viel Einsicht und Reue war eigentlich gar nicht zu erwarten von dem Politfuchs, der in Hoch-Zeiten seine Auffassung von Amtsführung so beschrieb: „Man muss auch mal einen durch die Tür treten können.“ Zwar stichelt er in seinen Memoiren sanft gegen die Sozis, Erwin Teufel, Franz Beckenbauer und seine Lieblingsfeinde von der Presse. Zu fürchten braucht das Werk aber keiner, der die Wege des Machiavelli aus dem Cannstatter Muckensturm kreuzte.

Zwei sind ihm ans Herz gewachsen: Christoph Daum und Jürgen Sundermann

Zu erwarten war das nicht. In der Geschäftsstelle des VfB Stuttgart legten sie die Hände bis zuletzt an die Hosennaht, wenn die Dienstkarosse auf den Parkplatz in der Mercedesstraße einbog. „Achtung, der Alte kommt.“ Der verglich die Haltbarkeit seiner Trainer gern mit der Saphirnadel seines Plattenspielers. „Irgendwann muss halt mal eine Neue rein.“ Sie kamen und gingen.

Zwei sind ihm dennoch ans Herz gewachsen. Jürgen Sundermann, mit dem 1977 der Wiederaufstieg gelang und Christoph Daum, der es wie kein anderer verstand, die Menschen mit auf die Reise zu nehmen – vom Mittelstürmer bis zum Platzwart. „Beide sind auf ihre Art faszinierende Menschen“, sagt ihr ehemaliger Chef. Mit Sundermann feierte er die Rückkehr in die Bundesliga derart ausgiebig, dass ihn Margit, seine Frau, nach der Rückfahrt vom entscheidenden Spiel in Trier direkt am Mannschaftsbus in Gewahrsam nehmen musste: „Gerd, du steigst mir in kein Auto mehr.“ Sundermann tat es doch. „Und beschädigte fünf weitere“, sagt MV und lacht herzlich. Christoph Daum kniete – mit einer Rose zwischen den Zähnen – schon mal ergriffen vor der Bühne nieder, wenn der Chef nach rauschenden Feiern zu vorgerückter Stunde „My Way“ von Frank Sinatra zum Besten gab.

Dass sie MV nach 25 Jahren an der VfB-Spitze ausgewechselt haben wie einen alternden Kicker, der den richtigen Zeitpunkt für seinen Rücktritt versäumte, wurmt ihn zwar noch immer, doch mit den meisten seiner früheren Kritiker hat er seinen Frieden gemacht. Nur Heinz Bandke, dem ehemaligen Chef des Verwaltungsrats, verweigert er bis heute den Handschlag. „Er war es doch, der mich damals als Präsident haben wollte.“ Später führte er die Palastrevolution, die Mayer-Vorfelder zum Abschied zwang.

„Der Fußball hat mir eine andere Welt eröffnet“, sagt Mayer-Vorfelder

Allem Ärger zum Trotz. „Der Fußball hat mir eine andere Welt eröffnet“, sagt Gerhard Mayer-Vorfelder, „ich bin durch ihn viel herumgekommen.“ Doch ganz gleich, ob er dem DFB-Ligaausschuss vorstand, ob er in der Fifa-Exekutive amtierte oder als Präsident den Deutschen Fußball-Bund (DFB) führte, seine Aura litt immer darunter, nicht die Verdienste eines Beckenbauer, Seeler oder Overath nachweisen zu können. Dass die Kabale der Sportfunktionäre denen der Politiker in nichts nachstehen, erkannte er nach der Fußball-Europameisterschaft 2004. Sie drängten ihn in die Doppelspitze mit Theo Zwanziger. Nach der WM 2006 klappte der Deckel endgültig zu.

Dass sie dem Schwaben-Import viel zu verdanken haben, bestreiten in der Frankfurter Otto-Fleck-Schneise selbst jene nicht, die MV für eine unheilbare Krankheit hielten. Zwar bekamen die Präsidien gern mal rote Flecken im Gesicht, wenn der Stuttgarter die Tagesordnung ganz in seinem Sinne lenkte, doch ohne ihn hätte Jürgen Klinsmann nicht den Bundestrainer gemacht. Und die hoch gelobte Talentförderung wäre bis heute kaum mehr als eine ziemlich gute Idee.

Unbestritten ist: Der Mann, den sie je nach Lage der Dinge mal Mayer-Vorstopper, mal Mayer-Vorderlader nannten, hinterlässt Spuren. „Spuren im Sand“, sagt der alte Löwe, „die von den Stürmen der Zeit wieder zugeweht werden.“ Aber das ist mehr, als die meisten von sich behaupten können.

Gerhard Mayer-Vorfelder, „Ein stürmisches Leben“, Erinnerungen. Hohenheim-Verlag. 19,90 Euro