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Alle Nase lang diskutiert die Fußballwelt über den Videobeweis. Wir nicht. Wir lachen darüber.

Stuttgart - Eigentlich mag ich es nicht, wenn Menschen brüllen. Ausgenommen sie tun es vor Freude. Zum Beispiel beim Fußball. Aber der hat jetzt den Videobeweis. Und Brüllen gibt es nur noch auf Bewährung. Es kann passieren, dass sich die Radiostimme von Sabine Töpperwien gefühlt über zwei Oktaven bewegt: „Toor in Stuttgaart!“ Oder der Einpeitscher von Sky mit Eiseskälte unterbricht: „Elfmeter in Gladbach!“

Aber die ganze Aufregung umsonst war.

Der kleine Mann im Ohr

Der Schiedsrichter spricht erst mal mit einem kleinen Mann im Ohr, zeichnet dann Rechtecke in die Luft, als dirigiere er den Männerchor des Deutschen Fußball-Bunds (DFB). Manchmal rennt er an den Spielfeldrand und guckt selbst noch ein bisschen Fernsehen. Danach trifft er seine Entscheidung. Das ist ärgerlich, weil kein Fußball-Fan auf den Jubel warten will wie auf eine verspätete S-Bahn. Es ist noch nicht einmal so, dass die Zeit bis zu der Weisheit letzter Sch(l)uss mit Sicherheit reicht, um noch ein Bierchen zu holen.

Man soll ja nicht soviel über vergangene Zeiten reden. Aber ich habe nach vielen Jahren einen alten Freund getroffen. Man könnte sagen: Er ist ein Aktivist gegen den Videobeweis. Wir haben früher ein paar Jahre zusammen Fußball gespielt.

Zu später Stunde haben wir unsere Nasen verglichen – mit dem Ergebnis: viel zu groß! Wir wären ein gefundenes Fressen gewesen. Für den Videoassistenten der aus der Deckung seines Kölner Kellers heraus mit einer kalibrierten Linie jeden erbarmungslos ins Abseits stellt, der von seinem Genpool mit dem sprichwörtlichen guten Riecher für Tormöglichkeiten ausgestattet wurde. Dass der nicht klein sein kann, versteht sich von selbst. Und das gilt nicht nur für Mario Gomez.

Früher galt bei gleicher Höhe: Im Zweifel für den Stürmer. Und Zweifel gab es oft. Die Nasengröße spielte noch keine Rolle.

Der unverbrauchte Spaß am Spiel

Wie es an solchen Abenden so ist: Wir sind ins Philosophieren gekommen über den Sinn des Spiels. Uns hat es zusammengeführt, weil wir Spaß daran hatten zu rennen, zu kämpfen und herauszufinden, wer es ein bisschen besser kann als der andere Wir haben auf dem Bolzplatz nie einen Schiedsrichter gebraucht. Wer stolzer Besitzer eines Lederballs war, durfte beginnen beim Mannschaften wählen. Meinen hat der erboste Nachbar leider öfter mal zerschnitten. Dann musste ich wieder warten: Bis Weihnachten, Ostern oder bis zum Geburtstag.

Tore waren jeweils zwei Jacken oder in den Boden gesteckte Äste. Und drüber geschossen hatte, wer höher zielte als der Torhüter groß war. Das Seitenaus war dort, wo die Brennnesselwiese begann. Dreimal ins Toraus ergab einmal Elfmeter. Fouls gab es sehr selten. Sonntags nie. Wir mussten beim Kick auf dem Heimweg Rücksicht auf das Anzügle nehmen, mit dem wir in der Christenlehre waren. Mein Vater war früher Torwart. Ich nehme an, er hat deshalb nur kurz geschnauft, wenn meine neuen Halbschuhe vorne vom Spannschuss abgestoßen waren.

Der Schiri als Respektsperson

Zu unserer aktiven Zeit galt der Schiedsrichter als Respektsperson. Auch dann noch, wenn am Sonntagmorgen seine Alkoholfahne für eine Mannschaftsfeier gereicht hatte. Er sagte: „Meine Herren.“ Und: „Wer die Hand wegen Abseits hebt, wird verwarnt. Wer sie zweimal hebt, sieht von draußen zu.“ Eine kalibrierte Linie hat er nicht gebraucht. Sein Wort war Gesetz. Und die Rudelbildung war noch nicht erfunden. Als Prämie für einen Sieg reichte uns der Stolz auf die eigene Leistung.

Wir haben uns an diesem Abend gefragt, was aus uns wohl geworden wäre, hätten wir das Zeug für einen Profi gehabt. Mit, sagen wir mal, drei Millionen Euro Jahresgehalt. Ich will nur soviel verraten: Wir hätten uns eine Schönheits-OP geleistet: kleinere Nasen.

Wir haben gebrüllt vor lachen.