Als „Schwarzer Donnerstag“ geht der 30. September 2010 in die Stuttgarter Stadtgeschichte ein. Die Bilder von damals... Foto: dpa

Der Kampf um das Bahnprojekt Stuttgart 21 trägt am 30. September 2010 die Züge einer Straßenschlacht. Die Räumung im Schlossgarten wird für die Polizei und für die Politik zu einem Desaster. Unser Online-Spezial mit Bildern und Videos von damals und einer Grafik, die erklärt, was an dem Tag wann geschah.

Stuttgart - Man kann nicht gerade sagen, dass Verwaltungsrichter Dr. Walter Nagel die Behörden schonen würde. Der Stadt Stuttgart hat er die Gebühren für Vor-Ort-Waffenkontrollen um die Ohren gehauen, und vergangenes Jahr hat er Platzverweise gegen zwei Sitzblockierer aus dem Lager der Stuttgart-21-Gegner von Januar 2011 als rechtswidrig befunden. Jetzt hat der Vorsitzende der 5. Kammer im Gebäude des Verwaltungsgerichts einen extra Büroraum einrichten lassen, um 108 Aktenordner und zahlreiche DVD-Speichermedien  zur Akteneinsicht bereitzustellen.

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Alles für die große Gretchenfrage, die seine 5. Kammer vom 28. Oktober an klären soll und seit fünf Jahren unbeantwortet ist: Hatte die Polizei am sogenannten Schwarzen Donnerstag des 30. September 2010 überhaupt das Recht, gegen die Gegner von S 21 vorzugehen? Sieben Verletzte hatten Klage gegen das Land Baden-Württemberg als Dienstherr der Polizei eingereicht. Der Fall blieb bei Nagels Vorgänger Eckhard Proske liegen, wurde wegen des Wasserwerfer-Prozesses gegen zwei Polizei-Einsatzleiter zeitweise ausgesetzt. Jetzt aber macht sich das Verwaltungsgericht ans Werk.

Strafrechtlich dagegen läuft die Uhr ab. Nach fünf Jahren sind Nötigungen und Körperverletzungen verjährt. Dass der Polizeieinsatz aus dem Ruder  lief, hatte durchaus Konsequenzen. Im März 2011 wurde der erste Beamte, ein Bereitschaftspolizist aus Göppingen, zu einer Geldstrafe von 6000 Euro (120 Tagessätze) verurteilt. Dazwischen wurden gegen vier Beamte der Wasserwerferstaffel  Strafbefehle mit bis zu sieben Monaten Haft auf Bewährung verhängt. Im März 2015 hat der vorerst letzte Polizist, der damalige Polizeipräsident Siegfried Stumpf, eine Geldstrafe von 15.600 Euro zu 120 Tagessätzen akzeptiert.

Die Szenen von damals in einem Video, das am 30. September 2010 aufgenommen wurde

Fünf Jahre zuvor: Da stand Stumpf am Biergarten im Schlossgarten, fassungslos darüber, dass die Protestierer nicht weichen wollen und um jedes Gitter der Absperrung kämpfen. „Wir mussten uns durchsetzen“, sagte er.  Verletzte durch Pfefferspray und Wasserstrahlen  sah er offenbar nicht: „Ich habe Leute mit Regenschirm und Plane vorm Wasserwerfer  tanzen sehen, dann kann es nicht so schlimm gewesen sein.“

Wie viele Verletzte es am 30. September gegeben hat, weiß niemand so genau. Mindestens 164 sind offiziell registriert.  Etwa der 40-jährige Hausmeister, klatschnass, mit tränenden Augen, den der Reporter von einem Rotkreuzhelfer in die Hand gedrückt bekommt – mit den Worten: „Wenn Sie hier rumfotografieren können, dann können Sie den Mann auch zum Sanitätszelt  bringen, dort hinten bei den Schachbrettern.“   Ein Notlazarett, tatsächlich aus der Not geboren. Die Einsatzleitung der Polizei hatte das DRK  zu verständigen vergessen. Mit zweistündiger Verspätung richten sich die Helfer mit zwei Zelten abseits im Park ein.

Chaos. Die sogenannten Demo-Sanitäter zählen über 400 Verletzte. Dietrich Wagner, der Demonstrant  mit den blutenden Augen, wird zum Symbol der Schwarzen Donnerstags – doch nicht er ist es, dem am frühen Abend die Aufregung gilt. An einer Absperrung habe es eine Tote gegeben, heißt es. Erst spät steht fest: Es hat sie nie gegeben.

Der Tag danach - festgehalten in einem Video:

Für den früheren Richter Dieter Reicherter wird heute ein damals 14-Jähriger zu einem wichtigen Zeugen. Der hatte zu Protokoll gegeben, von einem Polizisten Pfefferspray brutal ins Gesicht gerieben bekommen zu haben – ein klarer Verstoß gegen Dienstvorschriften. Tatsächlich findet Reicherter in einem Video eine Tonaufzeichnung, in dem ein Beamter seinen Kollegen auffordert:  „Pfefferspray in die Handschuhe und ins Gesicht gerieben.“ Doch die Verjährungsfrist läuft ab. Und der Jugendliche will sich nicht als Zeuge zur Verfügung stellen.

Die Reaktionen von damals:

Da kann man sich kaum vorstellen, dass es an den Absperrungen auch andere Szenen gegeben hat: Ein Demonstrant plaudert mit einem Bereitschaftspolizisten aus Rheinland-Pfalz. Genauer: aus Mainz. Beide unterhalten sich als Fußballfans: „Ihr seid ziemlich gut“, sagt der Stuttgarter zu dem Uniformierten. Mainz ist  Tabellenführer in der Bundesliga, hat am Wochenende zuvor in München die Bayern 2:1 geschlagen. Der VfB dagegen: Tabellenletzter.

Demo zum fünften Jahrestag des 30. September: Am Mittwoch um 18 Uhr starten Demozüge  über Schlossplatz und Königstraße zum Hauptbahnhof. Dort findet um 19 Uhr eine Kundgebung statt.