Olivier Loudin stöbert auf dem berühmten Pariser Friedhof Père Lachaise die Geheimnisse der Namenlosen auf
Ein Friedhof als Stadt in der Stadt: eine Million Menschen, 69 000 Behausungen. Olivier Loudin ist einer der wenigen Lebenden, die hier heimisch sind auf dem Friedhof Père Lachaise im Osten von Paris.
Es ist ein kalter, aber sonniger Herbsttag. Loudin trägt Schiebermütze, Wollschal, Bundfaltenhosen, eine karierte Weste unterm Lederjackett mit Pelzbesatz. Die Besucher haben Loudin zufällig getroffen, sind auf der Suche nach dem Grab von René Lalique (1860–1945), Pariser Entrepreneur, Künstler und Vorreiter der industriellen Produktion von Parfümflakons. „Lalique? Oh, da sind Sie hier richtig!“, ruft Loudin, läuft los und winkt. Über einen schmalen Pfad schlängelt er sich an Stelen vorbei und führt zu der bescheidenen Ruhestätte von Frankreichs erfolgreichstem Kunsthandwerker.
Die meisten suchen die Gräber von Prominenten
Dreieinhalb Millionen Besucher kommen jedes Jahr auf den Père Lachaise (etwa so viele wie nach Köln). Die meisten suchen die Gräber von Prominenten, von Édith Piaf und Marcel Proust, von Molière oder von Jim Morrison. Monsieur Loudin stöbert die Lebensgeschichten Namenloser auf.
Seit 17 Jahren spaziert er die Wege entlang, die hier Avenuen heißen. Er nimmt die unbefestigten Gässchen, die ins Innere des Gräberfeldes führen, zwängt sich in die kaum einen halben Meter breiten Gänge zwischen haushohen Gruften. Bleibt unvermittelt stehen, weil ihm etwas eingefallen ist, das Detail einer Lebensgeschichte, die er wenige Tage zuvor erfahren hat. Ungeniert steckt er den Kopf in eines der Totenhäuser oder schaut zur verglasten Luke hinein, dreht sich zu seinen Gästen, seinem Publikum um und erzählt eine Anekdote.
Olivier Loudin sammelt Geschichten. Aber sein Intellekt und die Spielfreude des Schauspielers, der er eigentlich ist, bewahren ihn davor, sich von seinem Stoff beherrschen zu lassen. Er wahrt ironisch Distanz, nennt sich einen Chasseur, einen Jäger, macht, ehe er sich in Details zu verlieren droht, einen feinen Witz über den Tod und das Tänzeln am Abgrund, als das einem die Passion fürs Innenleben eines Friedhofs erscheinen mag.
Loudin, 62, stellt sich vor als Schauspieler, Sänger, Puppenspieler. Er hat 2008 seine seine jetzige Rolle übernommen von einem Mann, der lange schon den Friedhof Père Lachaise erkundet hatte, aus traurigem Grund: Seine Frau, obschon um 20 Jahre jünger, war vor ihm gestorben. „Er wollte ihr nahe sein“, erzählt Loudin, „und suchte in den benachbarten Gräbern nach bestimmten Charakteren, von denen er wusste, dass seine Frau gerne mehr darüber erfahren hätte.“
Elastisch federt Loudin Fragen ab, etwa ob seine Passion bisweilen Last sei, ob er auch er auch auf Reisen Friedhöfe besuche. Nein, nein, sagt er, eigentlich wolle er auch gar kein Guide sein. Jeder Student könne sich Wissen anlesen, erhalte ein staatliches Diplom und nenne sich dann Guide. Leute, die sich wirklich auskennen, sagt Loudin, sprechen auf dem Père Lachaise drei Stunden lang über den Algerienkrieg. Oder die Tunesien-Krise von 1961.
Loudin kann sich für so eine Hingabe begeistern. Selbst ist er das Gegenteil eines Heißsporns, eines Eiferers. „Ich bin nie in Eile. In dieser gediegenen Langsamkeit entdecke ich stets etwas Neues. Ich habe selten einen Plan. Ich lasse mich gerne jeden Tag überraschen.“ Olivier Loudin, der Romantiker, bot zuletzt Führungen zu den Gräbern „peripherer Persönlichkeiten“ an. Zu einst berühmten, aber von der Geschichte vergessenen Frauen zum Beispiel.
der älteste Stein auf dem Friedhof stammt aus dem Jahr 1804
Er kratzt mit einer Feile Moos von einem Stein, steht vor einem herrschaftlichen Mausoleum. Hier lässt es sich über 221 Jahre zurückreisen: Am 18. Juni 1804 starb Madame Reine Févez, Mutter von acht Kindern und Gattin von Valentin Robert. Der Stein steht bis heute, jetzt platziert an der Avenue Circulaire, und ist der nachweislich älteste auf dem Père Lachaise. 1973 jedoch wurden die Gebeine von Madame ins Beinhaus überführt. „Man steht“, sagt Loudin, „also vor einem leeren Grab. Und der Grabstein stand ursprünglich auch woanders.“
Diese Geschichte vom Tod der achtfachen Mutter macht nicht froh. Oder hat man nur falsche Erwartungen? Loudin schaut listig. Wie wäre es damit? Neulich entdeckte er eine Grabplatte mit zwei Initialen. MF, sonst nichts. „Das Grab aus dem 19. Jahrhundert ist geschmackvoll und teuer. Aber warum nur zwei Buchstaben? Hat man etwas zu verbergen?“ Loudin recherchierte und fand bislang heraus: Hier ruht nur eine Person, nämlich Marie Foyo, Schauspielerin, 35-jährig gestorben und halb anonym bestattet. Mit 21 soll sie eine Affäre mit einem verheirateten Mann gehabt haben. Ein unverzeihlicher Skandal zu jener Zeit.
Der Romantiker Loudin ist auch Nostalgiker. Möglich, dass er einem Paris nachtrauert, das vor 200 Jahren, damals ohne Eiffelturm, noch nicht die Weltstadt war.
Weiter durchs Labyrinth. „In diesem Teil gibt es viele ursprünglich kleine Leute, die etwas Großartiges geleistet haben und auf ihre Weise berühmt wurden. Wie René Lalique wurden sie reich durch die Industrialisierung, die Kinder wurden Schöngeister, weil die Eltern Geld hatten, ähnlich wie die neuen Dynastien der Bürgerlichen, die es durch die Revolution zu etwas gebracht hatten. Das 19. Jahrhundert“, schwärmt Loudin, „war Auftakt für all diese Innovationen!“
Gräber als Kulisse für Akt-Fotoshootings
Was fällt ihm zu den Lebenden ein? Zu den Selfies auf dem Friedhof? „Das ist nicht schlimm. Schlimm ist, wenn Leute sich von einer lauten, quäkenden Smartphone-Stimme durch die Gräberreihen lotsen lassen. Dieser Lärm!“
Auch nicht schlimm seien junge Leute, zumeist Deutsche, die im Frühjahr die Gräberkulisse für Akt-Fotoshootings nutzten. Schlimm seien hingegen Besucher, die mit einem Buch in der Hand verzweifelt einzelne Gräber suchten. „Ich kann zehnmal sagen: Sie werden dieses Grab von Heinrich Heine hier nicht finden! – Der Mann jedoch beharrt: ,Es steht aber doch hier in meinem Buch. Heine muss hier sein!‘“
So viel Borniertheit angesichts eines nachlässig recherchierten Reiseführers ist geradezu ehrenrührig gegenüber einem Mann, der seinen Friedhof besser kennt als der Friedhofsverweser von der lokalen Liegenschaftsbürokratie. Zumindest weiß er die besseren Geschichten. Auf einem Vorort-Friedhof, sagt Olivier Loudin, gebe es ein Grab mit der Inschrift: „Hier liegt der Teufel: meine Mutter“. Er lächelt, macht eine Kunstpause. „Darunter verzeichnet sind die Signaturen von vier Personen mit vier unterschiedlichen Namen.“
Es ließe sich noch über mancherlei Aber- und Kinderglauben und banal-mysteriöse Friedhofslegenden berichten. Etwa über dieses Versprechen: „Wenn Sie sich eine Woche lang in diesem Keller neben der Leiche einer jungen Frau aufhalten, werden Sie ihr Glück finden und reich werden.“ Eine Dauergrabstelle auf dem Père Lachaise kostet mindestens einen fünfstelligen Betrag. Zuletzt waren es 13 500 Euro.
Am Ende des Flanierens über den größten Pariser Cimetière und einen der schönsten der Welt, wird deutlich: Monsieur Loudin schätzt den Père Lachaise nicht alleine seiner parkähnlichen Landschaft wegen. Nein, er hat ein Faible für Friedhöfe an sich. Er war in Helsinki auf einem Friedhof und weiß noch, wie dort zur Winterszeit Schilder gewarnt haben: Hütet euch vor Bären auf dem Friedhof! „Aber den eindrücklichsten Ort habe ich auf Guadeloupe gefunden: Es gibt dort einen kleinen Friedhof, komplett in Schwarz und Weiß wie ein Schachbrett.“
Heinrich Heine liegt woanders begraben
Olivier Loudin ist Schauspieler und Geschichtenerzähler, Christ – und kein Mystiker. Er weiß, am Ende werden wir alle tot sein und hoffentlich unsere Ruhe finden. Wenn wir Glück haben, gibt es dann jemand wie Monsieur Loudin, der akribisch unserem kleinen Leben nachspürt. Sollten Sie Monsieur selbst einmal auf dem Père Lachaise begegnen, sprechen Sie ihn getrost an. Er freut sich über jede, der Würde des Ortes angemessene ernsthafte Frage.
Und falls Sie sich nach Heinrich Heines Grabstätte erkundigen wollen – Monsieur wird Sie auf den Nordfriedhof verweisen, den Cimetière de Montmartre.