Mehr als nur eine Sonntagsrede: die Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels Anne Applebaum warnt in der Frankfurter Paulskirche vor dem Zusammenhang von Despotie und Krieg und den Versuchungen, die sich in das Gewand des Friedens kleiden.
Auf einer Buchmesse werden über die Woche viele Sonntagsreden gehalten, glühende Bekenntnisse zu hehren Idealen, Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit. Doch so einfach sich die Zuhörenden dahinter versammeln können, so folgenlos verpuffen die Beschwörungen edler Abstrakta im kollektiven Wohlgefühl des Einverstandenseins. Was aber bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an die polnisch-amerikanische Historikerin Anne Applebaum zum Ausklang der Messe in der Paulskirche zu hören ist, teilt mit Sonntagsreden nur den Wochentag.
Anne Applebaum zählt zu den mit dieser Auszeichnung Geehrten, deren Bekenntnis zum Frieden mit der Zumutung einher geht, schonungslos den Preis zu benennen, dessen es bedarf, um ihn zu wahren. Die als Kind jüdischer Eltern in Washington geborene Pulitzerpreisträgerin unterstützt entschieden Waffenlieferungen an die Ukraine. Die Grenzen allgemeinen Einverstandenseins sind da schnell erreicht, sodass sich die Vorsteherin des Börsenvereins, Karin Schmidt-Friderichs, in ihrem Grußwort genötigt sieht, ihre eigene Ostermarsch-geprägte pazifistische Sozialisierung in Anschlag zu bringen: unumstößliche Überzeugungen, die vom russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 doch jäh infrage gestellt wurden. „Wir dürfen uns an den Meinungen der Preisträger reiben. Wir sollten an ihnen wachsen“, schickt sie voraus.
Bevor man sich an den Reden der diesjährigen Friedenspreisträgerin und ihrer Laudatorin, der russischen Menschenrechtlerin Irina Scherbakowa, reibt oder an ihnen wächst, ein kurzer Blick auf die aktuelle Nachrichtenlage: ein mit seinem Siegesplan bei seinen Unterstützern eher abgeblitzter ukrainischer Präsident, anhaltende russische Bombardements, schleichende Gebietsgewinne, chinesische Zulieferungen für russische Waffensysteme, nordkoreanische Soldaten, die auf Putins Seite in der Ukraine kämpfen, exakt so wie Applebaum die demokratiefeindlichen Allianzen in ihrem jüngsten Buch „Die Achse der Autokraten“ beschreibt. Und in Deutschland stehen Parteien auf dem Sprung in Landesregierungen, die mit Friedenspräambeln die Ukraine zum diplomatischen Spielball russischer Machtinteressen machen wollen und dabei immer mehr Rückhalt in einer kriegs- und krisenmüden Gesellschaft finden.
Auf all dies antworten Anne Applebaum und die sie würdigende Irina Scherbakowa aus der Tiefe des historischen Raumes. Und es ist frappierend, welche prognostische Präzision der Blick auf die Geschichte entfalten kann – und welche fatale Macht ihre Klitterung. Scherbakowa skizziert, wie die Arbeit der von ihr mitgegründeten Menschenrechtsorganisation Memorial, die sich um die Aufarbeitung des Stalin-Terrors verdient gemacht hat, in Moskau zum Schweigen gebracht wurde, und wie der Putinismus stattdessen im Versuch, sich eine eigene Ideologie zu erschaffen, seinen Blick immer stärker auf die Vergangenheit gerichtet hat. In ihren Büchern habe Anne Applebaum die nostalgische Sehnsucht nach dem verlorenen Sowjetimperium beschrieben, die in dem blutigen, krampfhaften Versuch gipfelt, das Imperium durch den Angriff auf die Ukraine zurückzuerobern. „Der Putinismus ist ein Kampf um die Vergangenheit – gegen die Zukunft“, sagt Scherbakowa.
Mit Befremden blickt sie auf die Mischung aus Angst und Illusionen, unterfüttert von den konkreten und zynischen wirtschaftlichen Interessen derer, die seit vielen Jahren von Putins Russland profitieren: „Diese Mischung sehe ich hier in Deutschland sehr deutlich und es ist auch klar, welche Kräfte, ultra-links und ultra-rechts, sie für ihre Politik nutzen.“
Wie Geschichte zur Blaupause der laufenden Ereignisse wurde, entwickelt Anne Applebaum in ihrer Dankesrede. Als sie die Geschichte der ukrainischen Hungerkatastrophe erforschte, jener Tragödie, mit der Stalin schon einmal versucht hatte, die Ukraine als Nation auszulöschen, habe sie nicht geahnt, dass sich diese Geschichte zu ihren Lebzeiten wiederholen könnte. Genau das sei der Fall. Die Besetzung der Krim am 20. Februar 2014 sei genauso abgelaufen, wie die russische Besetzung Polens 1944. Politische Täuschungsmanöver, Soldaten in falschen Uniformen, manipulierte Referenden, das gleiche Muster habe sich 2022 in der Ostukraine wiederholt, mit allen Folgen: willkürliche Gewalt, Folterkammern, Filtrationslager, entführte Kinder. Ziel sei der Aufbau eines totalitären Regimes.
Verteidigung der Freiheit
Applebaum beschreibt den Nexus von Despotie und Krieg, schildert die Militarisierung der russischen Gesellschaft, die autokratische Allianz mit den brutalsten Diktaturen der Welt und kommt schließlich zum entscheidenden Punkt: „Was ist mit uns“ – wie umgehen mit der Wiederkehr längst verschwunden geglaubter Regierungsformen?
Denjenigen, die ihren bedingungslosen Friedenswunsch als „Lehre aus der Geschichte“ ausgeben, hält die Historikerin entgegen, der Ruf nach Frieden sei nicht per se ein moralisches Argument. Sie zitiert Thomas Mann, George Orwell und den früheren Friedenspreisträger Manès Sperber, leidenschaftliche Kriegsgegner allesamt, die aber darin übereingekommen seien, dass die freiheitlichen Demokratien mit allen Mitteln verteidigt werden müssten.
„Wer Pazifismus fordert und nicht nur Gebiete an Russland abtreten will, sondern auch Menschen, Prinzipien und Ideale, der hat rein gar nichts aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts gelernt“, sagt Applebaum. Die schleichende Anziehungskraft der Autokratie kleide sich bisweilen in das Gewand einer verlogenen Sprache des Friedens. „Lassen Sie nicht zu, dass Skepsis zu Nihilismus wird, der Rest der demokratischen Welt braucht Sie“, ruft sie in den mit viel intellektueller und politischer Prominenz besetzten Saal.
Noch ist die Ukraine nicht verloren, lässt sich die Botschaft der polnisch-amerikanischen Friedenspreisträgerin zusammenfassen. Zu verhindern, dass ihr eindringlicher Appell zu einer weiteren Sonntagsrede verfliegt, liegt in der Hand der Zuhörenden.